erstellt mit easyCMS
Titel1114

Wir haben Herrn Putin geschrieben  (Volker Bräutigam)

Mit Freuden gebe ich zu, daß ich seit Beginn der Ukraine-Krise zur inzwischen beträchtlichen Anzahl der deutschen »Putin-Versteher« gehöre. Längst läßt mich die Anmache seitens der Minderheit von Obama-Verstehern kalt, die zwar in den Leit- und Konzernmedien das große Wort führen dürfen, aber längst nicht mehr Meinungsführer des Volks sind. Meine Souveränität verdanke ich nicht allein eigenen Bemühungen um politische Einsichten, sondern auch der Bereitschaft einiger meiner Freunde, sich dem Mainstream zu widersetzen und die weit verbreitete Lethargie angesichts der rußlandfeindlichen Politik und ihrer medialen Gefolgschaft aufzubrechen. Wir haben dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen Offenen Brief geschrieben – und damit ein überwältigendes Echo erzielt.

Ich muß ein wenig ausholen: Ein langjähriger Gesprächspartner hatte sich von Putins Appell am 18. März angesprochen gefühlt: Die Deutschen sollten doch verstehen, daß Rußland die Krim auf ihre Bitte hin aufgenommen habe. Schließlich habe Rußland ja auch den deutschen Wunsch nach Wiedervereinigung erfolgreich unterstützt, lange Zeit im Gegensatz zu Deutschlands westlichen Verbündeten. Diese Gedächtnishilfe, so meinte mein Gesprächspartner, sollte man zumindest höflich beantworten und zugleich kenntlich machen, daß in Deutschland nicht nur bedingungs- und besinnungslose Anhänger der USA, der NATO und der EU leben – und daß die washingtonhörige Berliner Politik durchaus nicht kritiklos hingenommen werde. Ob ich nicht in diesem Sinne meine journalistischen Verbindungen nutzen wolle?

Ich wollte. Und bat Freund Jochen Scholz (Ossietzky-Lesern als Autor bekannt, ein Oberstleutnant a.D., der sich im Sinne des Soldatengesetzes als »Verfassungsschützer« versteht, dem das Grundgesetz jegliche Mitwirkung an Angriffskriegen verbiete), einen Offenen Brief an Präsident Putin zu entwerfen, den wir zugleich den Massenmedien als Gegenposition zur Kenntnis geben könnten. Das Organisatorische würde ich übernehmen.

Jochen schrieb. Auszug: »Den entscheidenden Beitrag zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus hat, unter unvergleichlichen Opfern, die Sowjetunion geleistet. Gleichwohl war sie 1990 bereit, die deutsche Wiedervereinigung zu unterstützen, 1991 die Warschauer Vertragsgemeinschaft aufzulösen und die NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands zu akzeptieren. Dies wurde vom Westen nicht honoriert. [...] Die Ausdehnung der NATO bis in ehemalige Sowjetrepubliken, die Errichtung von Militärstützpunkten in ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten und der Aufbau eines Raketenabwehrschirms in Osteuropa bei gleichzeitiger Kündigung des ABM-Vertrages seitens der USA sind nicht nur eklatante Wortbrüche. [...] Diese Maßnahmen können auch von uns nur als Machtprojektion der westlichen Führungsmacht verstanden werden, die gegen die von Ihnen betriebene staatliche und ökonomische Konsolidierung Ihres Landes nach Ihrem Amtsantritt im Jahr 2000 gerichtet sind. [...] Sehr geehrter Herr Präsident, Sie haben bereits vor knapp vier Jahren für eine Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok geworben. Sie wäre die ökonomische Basis für das »Gemeinsame Haus Europa«. Die Ukraine könnte eine ideale Brückenfunktion für die künftige Kooperation zwischen der von Ihnen angestrebten Eurasischen Union und der Europäischen Union einnehmen, nicht zuletzt in kultureller Hinsicht. Wir sind überzeugt, daß die massive Einflußnahme der USA das Ziel hatte, diese Brückenfunktion auszuschalten. [...] Wir sind überzeugt: Nur wenn die Staaten und Völker des eurasischen Doppelkontinents ihre Angelegenheiten miteinander friedlich, respektvoll, kooperativ, auf der Grundlage des Rechtes und ohne Einmischung von außen regeln, wird dies auch auf die übrige Welt ausstrahlen. Wir verstehen Sie in diesem Sinn als Verbündeten.«

Jochens Offenen Brief mit zu unterzeichnen bat ich zunächst Freunde und Bekannte. Danach sandte ich ihn den Websites nrhz.de, 0815-Info.de, medienanalyse-international.de, schattenblick.de, oeconomicus.wordpress.com sowie dem vielgelesenen blog.fefe.de (Hg. Felix v. Leitner, Chaos Computer Club). Zugleich schrieb ich die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender an, die Nachrichtenagenturen dpa, reuters, afp, AP, Nachrichten-Magazine und Pressestellen sowie die Redaktionen der überregionalen Tageszeitungen. Ergebnis: überwältigende Verbreitung im Internet. Null Reaktion von Agenturen und Massenmedien. Lediglich die junge Welt berichtete ausführlich.

Es dauerte nur Stunden, ehe Unbekannte den Brief von einem geschulten Sprecher im Internet-Video-Portal youtube verlesen ließen, illustriert mit Fotodokumenten aus dem »Rußlandfeldzug« Nazi-Deutschlands nebst Rolltext zum Mitlesen. In der Folge übernahmen ungezählte Blogs den Offenen Brief – und die Zahl der Signatare stieg und stieg. Am 27. März übermittelte Jochen Scholz den Brief der Russischen Botschaft in Berlin.

In den folgenden Tagen wurden er und ich (irrtümlich ebenfalls als Briefautor angesehen, obwohl ich doch nur die Verbreitung organisiert hatte) um Interviews von russischen Zeitungen und Fernsehsendern gebeten. Der Brief erregte zu unserer Freude auch im russischsprachigen Internet wochenlang beträchtliches Aufsehen. Ich zitiere auszugsweise eine Mail meines obengenannten »Gesprächspartners« (er ist natürlich unter den Unterzeichnern, bat aber, seinen Namen nicht ausdrücklich bekanntzumachen): »Meine russischen Bekannten berichten mir, daß der Nachhall im russischen Internet immer noch zu vernehmen ist und auch stärker war als bei uns, vor allem in den Diskussionsforen. Sie halten für wahrscheinlich, daß Putin selbst den Brief gelesen hat. Das wäre so schön, wie es meines Erachtens bitter gewesen wäre, wenn man Putin hätte berichten müssen, daß seine an die Deutschen gerichteten Worte ohne irgendein Echo geblieben wären. Unser Brief gilt vielen Russen anscheinend auch als Beweis für Meinungsumfragen, nach denen die überwiegende Mehrheit der Deutschen gegen die Sanktionsmaßnahmen eingestellt ist. Daß die deutsche Medienlandschaft beflissen schwieg, konnte kaum überraschen ...«

Hier ein Auszug zur Dokumentation des russischen Echos aus dem Portal http://inosmi.ru: »Dank für das Verständnis und die adäquate Betrachtung der Lage an all jene, die diesen Brief unterzeichnet oder ihn einfach nur in ihrem Herzen unterstützt haben. Daß es solche Menschen in Europa gibt, flößt Hoffnung ein [...]« Aus dem Forum http://forum.sevastopol.info/: »Dank an die Deutschen für ihre Einstellung. Ich hoffe, es gelingt Ihnen, das weitere Geschehen zu beeinflussen.«

Gelesen wurde der Brief auch in den USA. Das regierungskritische Internet-Portal der Vereinigten Staaten, www.informationclearinghouse.info, berichtete. Autor Mike Whitney kommentierte die Briefaussage, Washingtons Ziel sei, eine Brückenfunktion der Ukraine zwischen der Eurasischen und der Europäischen Union zu verhindern und das Land stattdessen unter die Kontrolle der NATO zu bringen sowie die (Putinsche) Vision eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes von Lissabon bis Wladiwostok zu sabotieren: »Bingo. Das ist die US-Politik, auf den Punkt gebracht.«

Wir haben mit diesem Brief weltweit Millionen Menschen erreicht. Und in Deutschland? Die Anfragen der Blogger und der Website-Herausgeber, die den Brief auf ihren Seiten veröffentlichen wollten, habe ich schließlich nicht mehr gezählt. Erst recht bekam ich keinen Überblick über die Reaktionen in den sozialen Netzwerken wie facebook und twitter; die sind ohnehin nicht meine Welt. Nur fünf negative E-Mails hatte ich zur Kenntnis zu nehmen: Vier enthielten Pöbeleien und Beschimpfungen. Die restliche war eine Morddrohung: »Putinknecht, du wirst sterben in drei Tage [sic!].« Kyrillisch unterzeichnet von einem »Volker Maus« mit russischer Mailadresse.

Ich freue mich meines Lebens und darüber, daß mittlerweile die Redaktionen unserer Hauptnachrichtenlieferanten des Fernsehens und des Rundfunks sowie die großen Tageszeitungen mit Protest gegen ihre irreführende, verfälschende, rußlandfeindliche und friedensgefährdende Berichterstattung überschüttet werden. Bei ARD, ZDF und DLF brachen wegen der Fülle der Protestmails zeitweilig sogar die Server zusammen.

Nichts muß man widerspruchslos hinnehmen. »Was tun?« – ‘was tun!