erstellt mit easyCMS
Titel1114

Gestohlene Jugend (3)  (Heinrich Hannover)

Unvergeßlich wird mir der 27. April 1945 bleiben. In der Nähe des Dorfes Luppedubrau bei Bautzen sollten wir den Befehl ausführen, gegen die Frontlinie der Roten Armee zu stürmen, um diese in Richtung Moskau zurückzudrängen und doch noch den Endsieg zu erringen. Ein wahnsinniges Unternehmen, wie es ähnlich auch Dieter Wellershoff erlebt und in seinem Buch »Der Ernstfall« geschildert hat. Wir sahen jenseits der Wiese, über die wir vorgehen sollten, an einem Waldrand die sowjetischen Panzer stehen, gegen die uns eine einzige panzerbrechende Waffe, ein erobertes sowjetisches Geschütz, zur Verfügung stand. Ein Kamerad kannte sich mit der Bedienung aus und schoß eine Granate ab. Ihm gelang ein Zufallstreffer, ein Panzerwagen ging in Flammen auf. Wir jubelten. Erst sehr viel später begriff ich, daß wir da über den furchtbaren Tod von jungen Menschen gejubelt hatten, die in dem Panzer verbrannten.

Wenn die Sowjetsoldaten gewußt hätten, wie schlecht bewaffnet wir waren, hätten sie uns durch ein Vorrücken ihrer Panzerwagen in Minuten vernichten können. Sie begnügten sich damit, uns mit Granaten zu beschießen. Eine Granate explodierte in meiner Nähe, tötete einen neben mir laufenden Obergefreiten und traf auch mich mit einem Splitter, der dicht neben der Wirbelsäule zwischen Schulter und Hals in den Körper eindrang, wo er heute noch sitzt. Eine Verletzung, die dazu führte, daß ich die Kampflinie verlassen mußte und mit einem Sanitätsfahrzeug abtransportiert wurde. Am Verbandsplatz traf ich einen Anklamer wieder, der wohl noch Medizin studierte, aber schon als Arzt fungierte. Ich kannte ihn als Tambourmajor des HJ-Fanfarenzugs. Er versorgte mich mit Apfelsaft und zog Kleiderfetzen aus meiner Wunde.

Dann erinnere ich mich an eine dunkle Höhle, in der wir Verwundete zu hunderten auf dem Boden lagen. In einiger Entfernung hörte ich eine Stimme, die ich aus der Zeit der Rekrutenausbildung in Holland kannte. Das war ein schneidiger Offizier, der meine soldatischen Fähigkeiten nicht hoch eingeschätzt hatte (»Außer zum Wachestehen zu nichts zu gebrauchen«). Er war offenbar schwer verletzt und jammerte laut. Sein Leben ging wohl zu Ende, er hätte es sonst sicher noch zum General gebracht.

Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dieser Höhle voll sterbender Krieger wieder herausgekommen bin. Jedenfalls gehörte ich dann zu der endlosen Kolonne deutscher Soldaten und Zivilisten, die durch die nördliche Tschechoslowakei nach Westen flüchteten, um nicht in russische Gefangenschaft zu geraten, die ich, wie ich fürchtete, in meinem damaligen körperlichen Zustand nicht überlebt hätte.

Am 8. Mai 1945 erreichte ich bei Karlsbad amerikanische Truppen, gab Waffen und Soldbuch ab und kam auf dem Flugplatz von Eger in ein riesiges von bewaffneten Posten bewachtes Gelände, das als Gefangenenlager diente, ohne irgendwie für die Unterbringung von vielen tausend Menschen eingerichtet zu sein. Wir lagen da Tag und Nacht auf dem Flugplatz ohne Zelte oder sonstigen Wetterschutz. Die Amerikaner hatten sich für unzuständig erklärt, für unsere Verpflegung zu sorgen, und zwar mit der Begründung, auf uns finde die Haager Landkriegsordnung keine Anwendung, weil wir nicht Kriegsgefangene, sondern »entwaffnete Deutsche« seien. Die »entwaffneten Deutschen« hatten im Lager gleich wieder Kompanien gebildet, die sehr unterschiedlich mit Lebensmitteln versehen waren. Da ich das Pech hatte, einer Kompanie zugeteilt zu werden, die über keine Lebensmittelvorräte verfügte, gehörte ich zu den Gefangenen, die auf Diebstähle innerhalb des Lagers angewiesen waren, um zu überleben. Ich bildete mit einem Unteroffizier und einem Feldwebel, die ich im Lager kennengelernt hatte, gewissermaßen eine kriminelle Vereinigung, die unter nicht ganz ungefährlichen Umständen nachts die nötigen Lebensmittel besorgte und daraus tagsüber etwas zusammenkochte und verzehrte. Das waren noch zwei schlimme Wochen, bevor die Entlassungen aus dem Lager begannen. Ich folgte einer durch Gerücht verbreiteten Empfehlung nicht meinen in der sowjetischen Besatzungszone gelegenen Wohnort, sondern einen Ort in der amerikanischen Besatzungszone als Heimatadresse anzugeben. In der Nacht vom 22. zum 23. Mai 1945 traf ich nach zwölfstündiger Fahrt auf einem mit 50 deutschen Gefangenen eng stehend beladenen amerikanischen Lastkraftwagen in Kassel ein, wo ich bei Verwandten Unterkunft fand, die mich nur ungern aufnahmen. Der Sohn des Hauses, mein Vetter, war noch in den letzten Kriegstagen gefallen. Ich war der falsche Heimkehrer.

Es gab keine Post- oder Telefonverbindung zwischen den Besatzungszonen, so daß ich erst nach vier Monaten vom Tod meiner Eltern erfuhr. Im September 1945 kam eine an meine Eltern gerichtete Postkarte zurück, die ein amerikanischer Offizier über die Zonengrenze geschmuggelt hatte. Sie enthielt einen Vermerk, der wohl von dem Anklamer Postboten stammte: »Beide durch Freitod aus dem Leben geschieden.« Als Ende Oktober 1945 der Postverkehr zwischen den Besatzungszonen möglich wurde, erfuhr ich, daß meine Eltern schon seit Anfang Mai tot waren. Ich wurde als Neunzehnjähriger gewissermaßen über Nacht erwachsen und begriff, daß ich nun mein Leben selbständig in die Hand nehmen mußte.

Im November 1945 wagte ich zum ersten Mal die Reise über die militärisch bewachte grüne Grenze nach Anklam, die mit heute unvorstellbaren Schwierigkeiten und Gefahren verbunden war und mehrere Tage und Nächte in Anspruch nahm. Anklam gehörte zu den Städten, die, wie es der »Führer« befohlen hatte, militärisch verteidigt worden waren. Nach der von der Roten Armee erkämpften Einnahme war die Stadt von deutscher Artillerie beschossen und von deutschen Kampfflugzeugen bombardiert worden. So wurden auch noch die Reste des schon durch frühere Luftangriffe schwer getroffenen Stadtzentrums meiner Heimatstadt in ein Trümmerfeld verwandelt.

Mein Vater hatte sich durch das Hissen einer Rotkreuzfahne am Haus als Arzt zu erkennen gegeben und sich mit einem russischen Arzt auf französisch, der einzigen gemeinsamen Fremdsprache, unterhalten. Aber diese kollegiale Verständigung verhinderte nicht, daß meine Eltern von betrunkenen russischen Soldaten mit dem Messer bedroht und beraubt wurden. Eine plakatierte Aufforderung der Militärregierung, daß sich alle Parteigenossen der NSDAP in der sogenannten Kriegsschule einzufinden hätten, war dann der Anlaß für meine Eltern, sich mit einer bereitliegenden Dosis Morphium das Leben zu nehmen, nachdem sie sich von befreundeten Nachbarn verabschiedet und einen Abschiedsbrief für mich hinterlassen hatten. Ich verstehe, daß mein Vater sich nicht in russische Gefangenschaft begeben wollte. Und ich verstehe, daß meine Mutter, obwohl sie politisch unbelastet war, nicht allein zurückbleiben wollte. An Frauen wurde Rache genommen für das, was deutsche Soldaten in Rußland getan hatten. 600 Menschen haben damals in Anklam den Freitod gewählt.

Mein Elternhaus und das gesamte sonstige Vermögen meiner Eltern war von der Besatzungsmacht enteignet worden. Als ich nach Anklam kam, fand ich das Haus im Besitz eines Berufskollegen und Duzfreundes meines Vaters vor, der rasch gewendet Mitglied der KPD geworden war und das gesamte zu Volkseigentum gewordene bewegliche Vermögen meiner Eltern zu lächerlichen Preisen erworben hatte. Ich sagte ihm ins Gesicht: »Mein Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, was für einen Freund er an Ihnen gehabt hat.« Das wurde von Patienten im Nebenzimmer mitgehört und zum Stadtgespräch gemacht. Da er seine Raffgier auch an seinen Patienten betätigte, endete er im Gefängnis, wo er sich erhängte.

Meine Bemühungen bei Anklamer und Schweriner Instanzen, die Enteignungen rückgängig zu machen, blieben erfolglos. Auch meine kurz vor der Einberufung erfolgte Zulassung zur höheren Forstlaufbahn in Pommern war wertlos geworden. Ich bemühte mich um eine Übernahme in den hessischen Forstdienst, aber vergeblich. Daran war auch durch eine siebenmonatige Tätigkeit als Forsteleve und Waldarbeiter (mit einem Stundenlohn von 48 Pfennigen) nichts zu ändern. Ich mußte mir einen neuen Beruf ausdenken, und mir fiel nur die Juristerei ein. Nicht ahnend, daß mich der Rechtsanwaltsberuf eines Tages faszinieren würde.

Fortsetzung folgt.