Das Motto
Auch in diesem Jahr standen die Maikundgebungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter einem »Motto«. Der Begriff ist dehnbar. Ein Wahlspruch kann damit gemeint sein, also ein frommer Wunsch, oder ein Schlachtruf angreifender Scharen; aber auch das Leitmotiv einer Erzählung. Das Motto des DGB für 2014 hieß: »Gute Arbeit. Soziales Europa«. Kürzer war es als im vergangenen Jahr, da lautete das Motto: »Gute Arbeit, sichere Rente, ein soziales Europa«. Mit den Renten ist demnach jetzt alles ok. Die Verkürzung des Mottos legt allerdings ein Mißverständnis nahe: Man kann es so lesen, als hätten die Politiker gute Arbeit geleistet und ein soziales Europa geschaffen. Aber der DGB wollte gewiß sagen, das Soziale an der EU sei erst noch herzustellen, und so äußerten sich auch die Mairedner. Wenig war darüber zu hören, wie das denn zu machen sei, ausgenommen dies: indem man am 25. Mai seine Stimme abgibt, an das Europäische Parlament.
»Mein Kreuz für Europa« stand auf der Maiausgabe des Mitgliederblatts der Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie. Die »Europawahl« sei eine »Chance zur Trendwende«, sie bestimme »über den künftigen Kurs der Europäischen Union« – so der Vorsitzende dieser gewerkschaftlichen Organisation. Ob er selbst das glaubt? Über die nur geringen Kompetenzen des Europäischen Parlaments wird er doch informiert sein. Die EU ist keine parlamentarische Demokratie. Aber die Neigung, sich an der »Europawahl« zu beteiligen, ist gering, und die Große Koalition, informell auch im EU-Parlament funktionierend, braucht Stimmen, sonst steht sie schlecht da; also muß animiert werden – mit einem frommen Wunsch.
Und im nächsten Jahr kann der DGB dann wieder »Soziales Europa« zu seinem Mai-Motto machen, die Hoffnung sollen die GewerkschafterInnen ja nicht aufgeben. »Gute Arbeit« läßt sich vielleicht noch wegkürzen, möglicherweise würde es in einem Jahr zynisch klingen angesichts der Arbeitslosenzahlen in europäischen Ländern.
M. W.
Geheimnisverrat in der Provinz
Meldungen aus der Bundeswehr schaffen es nur schwer in die Medien. Ein Beispiel: die Meldungen über Folter und deren Einübung in Coesfeld (Westfalen). Erst als betroffene Soldaten zu einem Lehrgang nach Düsseldorf kamen und abends in der Kneipe davon sprachen, was mit ihnen gemacht wurde und was man sie zu tun hieß, hörte es ein Journalist, der dann im
Spiegel darüber berichtete. Danach dauerte es noch vier Jahre, bis im September 2008 das gerichtliche Urteil stand. Andere wichtige Meldungen, die mit der atomaren Bewaffnung in Deutschland, mit den Kriegen der Zukunft, den automatischen Waffen und den Kampfdrohnen zu tun hatten, gelangten nur in die Lokalberichterstattung, nicht darüber hinaus, weil die Zentralredaktionen sie nicht verfolgen. Hätte etwa Edward Snowden sie verbreitet, wäre vermutlich höchste Aufregung entstanden.
Neben Whistleblowern wie Snowden, gibt es aber auch Menschen wie Inge Holzinger, 81jährige Ostermarschiererin aus Duisburg. Die ehemalige Lehrerin hat ein Schnurtelefon und sonst nichts aus dem Arsenal der heutigen Kommunikationstechnik. Inge Holzinger liest den Lokalteil von Zeitungen des Essener
WAZ-Konzerns.
Im Herbst 2011 las sie der erschreckten Vorbereitungsrunde des Ostermarsches Rhein-Ruhr vor: Von Kalkar aus wird durch die NATO künftig der Luftraum nördlich der Alpen observiert und mit Waffen gesichert – und der umfaßt fast das gesamte Rußland. Im vorläufig virtuellen Einsatz können Flugzeuge abgeschossen werden oder »Terroristen« in weiter Ferne »unschädlich gemacht« werden. »Wenn die NATO Krieg spielt«, stand über dem Artikel (siehe auch Ossietzky 7/12). Inzwischen erfuhren wir mehr – wieder durch ein Provinzblatt: »Der Luftwaffenstandort Kalkar wächst« (
Rheinische Post vom Niederrhein).
Beim diesjährigen Ostermarsch wurde auch diese neue Enthüllung verbreitet, ohne daß die Mainstream-Medien sie weitergaben. Beim Marsch-Stopp auf dem Dortmunder Friedensplatz wurde über das exorbitante Luftwaffenkommando in Kalkar-Uedem berichtet, das die Zahl der Drohnenpiloten und anti-russischen Raketenschirmbesatzungen auf 1000 Experten des Tötens verdoppelt hat und noch weitere 400 Arbeitsplätze für Mordkommandos und den anti-russischen Raketenschirm plant, deren Arm bis weit hinter Moskau reicht. Der Raketenschirm müsse Rußland beunruhigen, mahnte ein Redner und erinnerte an die alte Erkenntnis der Friedensbewegung: Raketen sind Magneten.
Auf anderen Märschen wurden weitere verschwiegene oder verheimlichte Ereignisse thematisiert: der Absturz eines Tornadoflugzeugs am 16. Januar 2014 ganz nahe dem Atomwaffenstützpunkt Büchel oder der Beinahe-Atomunfall ganz in der Nähe von Tausenden Kirchentagsgästen am Hamburger Hafen im Mai 2013.
Im Zwei-plus-Vier-Vertrag, steht die Verpflichtung, daß das »vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen« (Art. 2 Satz 3). Die Bundesregierung hält sich in ihrem Reden und Handeln längst nicht mehr an diese Verpflichtung. Das Grundgesetz sieht nur Einsätze der Bundeswehr zur Verteidigung vor. Ernst Söder, langjähriger Gewerkschaftssekretär, sagte am Karfreitag in Dortmund: »Auch die Erklärung des Bundespräsidenten, daß die Deutschen mehr Verantwortung in der Welt – auch die militärische – zu übernehmen hätten, widerspricht dem Inhalt des Grundgesetzes, das die Bundeswehr ausdrücklich zu einer Verteidigungsarmee erklärt.«
Viele Medien aber verhöhnten die Ostermärsche und verschwiegen die Aussagen der Friedensbewegung.
Ulrich Sander
Die Gurken-Wahl
Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die Deutsche Bundesregierung sind in Sorge: Die Wahlberechtigten zeigen sich nicht sonderlich animiert, am 25. Mai ihre Stimme abzugeben. Und so wurde denn ein Wettbewerb ausgeschrieben für die besten Entwürfe von Plakaten, die vor allem JungwählerInnen dazu bringen sollen, sich an der sogenannten Europawahl zu beteiligen.
Die so zustande gekommenen Produkte sind nun in die Öffentlichkeit gebracht. Seltsames ist da zu sehen. Die Spitzenleistung: Das Bild einer gekrümmten Gurke, dazu als Text »NOBODY'S PERFECT – Am 25. Mai ist Europawahl!« Ob die Jury der Meinung ist, mit einem Mitleidsappell politisches Interesse wecken zu können? Die Verdrängung ungeraden Gemüses vom Markt war jedoch keine Entscheidung des europäischen Parlaments, sondern eine der Kommission, und die steht nicht zur Wahl.
Die CDU präsentiert auf ihren Plakaten die Kanzlerin. Angela Merkel als deutsch-christdemokratische Spitzenkandidatin für das Europäische Parlament? Damit sie dann gesamteuropäische Staatenbundpräsidentin wird? Keineswegs, denn die Kanzlerin bleibt der Bundesrepublik erhalten, ihre Machtposition in europäischen Landen ist informeller Natur, zudem auch ein wenig angeschlagen. Aber die Werbeleute in der CDU-Zentrale halten offenbar ihren Spitzenkandidaten für das Europäische Parlament für wenig attraktiv, wer hat noch den ehemaligen Ministerpräsidenten Niedersachsens im Gedächtnis?
Besser dran ist die weiß-blaue Schwesterpartei. Ganz gleich, wofür gewählt wird, sie hat immer ihren amtierenden Landeschef. »Wer Bayern eine Stimme in Europa geben will, muß CSU wählen«, steht neben seinem Bild. Das leuchtet ein. Horst Seehofer ist stimmkräftig, er hat es nicht nötig, in Straßburg oder Brüssel herumzusitzen, um sich Gehör zu verschaffen.
Die SPD plakatiert einen tatsächlichen Spitzenkandidaten für das Europäische Parlament, Martin Schulz. Der ist zugleich oberster Bewerber aller sozialdemokratischen Parteien in der EU und will Präsident der EU-Kommission werden. Ob er damit zum Zuge kommt, wird aber letzten Endes nicht durch das Wahlergebnis entschieden, denn der Europäische Rat, also die erlauchte Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs in der EU, benennt den Kommissionspräsidenten, das Parlament darf ihn nur bestätigen. Tut es dies nicht, bringt der Rat einen neuen Namen ins Spiel. Der EU-Parlamentarismus ist nämlich im Stande der Unterentwicklung, die politische Macht liegt beim Rat, die bürokratische bei der Kommission.
Dem Europäischen Parlament fehlt es nicht an Sitzen, 751 sind es, sondern an Kompetenzen. Einige hat es im Laufe der Zeit hinzugewonnen, was den prominenten CDU-Abgeordneten Elmar Brok (dienstältester Europaparlamentarier) jetzt zu einem Werbespruch verlockt hat: »Inzwischen haben wir fast alles zu sagen.« Offenbar setzt er damit auf politikkundliche Wissensmängel beim Publikum.
Mit Naivität bei den Wahlberechtigten rechnet die SPD. Sie plakatiert: »Für ein Europa der Menschen, nicht des Geldes«. Da kommt man ins Grübeln: Ist denn nicht gerade die Finanzpolitik ein heftiges Problem im EU-Terrain? Liegen nicht die europapolitischen Konflikte dort, wo strittig ist, zu wessen Gunsten Geld der Steuerzahler ausgegeben und wem es entzogen wird? Allerdings: Da hat das Europäische Parlament fast nichts zu sagen, solche Entscheidungen werden von anderen Institutionen getroffen, und als schwer durchschaubare oberste Instanz ist der »Finanzmarkt« tätig.
»Mehr für Bürger. Weniger Brüssel« – verspricht die AfD auf ihrem Wahlplakat mit dem Spitzenkandidaten Bernd Lucke. Leider erfahren wir nicht, was uns denn in größerem Umfange als bisher beschert wird, wenn AfD-Vertreter im Europäischen Parlament sich ansiedeln und verlangen, daß Brüssel verkleinert wird. Das mag aber auch gleichgültig sein, denn dieser Partei geht es ja um emotionalen Gewinn: Um mehr »deutschen Mut«, mehr nationales Sentiment. Und um etwas Banales: mehr Wahlkampfkostenerstattung.
Das streben selbstverständlich auch die anderen Parteien an, um die Parteikassen zu sanieren. Und die Wahl zum Europäischen Parlament hat eine Funktion, die nicht im Ungewissen liegt: Sie dient als Werbemaßnahme im innerdeutschen Parteienmarkt, wer dabei gut abschneidet, verbessert sich hierzulande im Polit-Ranking. Insofern hat der Ausgang der Wahl zum Europäischen Parlament auch für die Grünen und für Die Linke seinen Stellenwert, obwohl sie dort gegen den Block der christdemokratisch-konservativen »Europäischen Volkspartei« und der Sozialdemokratischen Parteien keine operative Chance haben. Die informelle Große Koalition – mitsamt der internen Konkurrenz – dieser beiden »EU-tragenden« Kräfte wird gerade dann anhalten, wenn diesmal im Europäischen Parlament die Rechtspopulisten mehr Sitze gewinnen. Außerdem wird das Europäische Parlament nebenher gebraucht als Versorgungsplatz für verdiente Politiker, die im eigenen Land nicht mehr so recht einsetzbar sind. Wer möchte ihnen das mißgönnen? Aber deshalb muß niemand, der sonst seine Stimme lieber behalten möchte, diese am 25. Mai abgeben. Die Zahl der Sitze im Europäischen Parlament verringert sich nicht durch niedrige Wahlbeteiligung.
Solche Überlegungen führen nicht zwangsläufig zu dem Schluß, man solle sich zum 25. Mai wahlverweigernd verhalten. Wen würde das beeindrucken? Möglicherweise finden sich ja im Angebot der Parteien einige Kandidatinnen und Kandidaten, von denen erwartet werden kann, daß sie ein Parlament als Gelegenheit nutzen, öffentliches Nachdenken zu fördern und die Machtroutine der regierenden Chefs sowie der EU-Kommissionäre zu stören. Es gibt Beispiele für dieses Verhalten in der Geschichte des Parlamentarismus. Das Engagement für Demokratie hat viele Facetten.
A. K.
Walter Kaufmanns Lektüre
Das Tagebuch darf alles, muß alles dürfen, alles wagen – so hält es Fritz J. Raddatz auch mit dem Folgeband zu den Tagebüchern, die zwischen den Jahren 1989 und 2001 entstanden. Dürfen, wagen – er nahm sich in den folgenden zehn Jahren weniger zurück: Verzagtheit, Mißgunst, Altersmüdigkeit, Todesahnungen und Todeswünsche, Schreibblockaden, die einhergehen mit der Unterbewertung des Geleisteten, Metamorphosen von Freundschaften zu Feindschaften. Auch Stimmungen und Stimmungsschwankungen werden akribisch festgehalten, sexuelle Sehnsüchte und Ausschweifungen explizit beschrieben, wie auch wiederholt jene homoerotischen Verführungen, die er als Minderjähriger erdulden mußte (und später goutierte). Und wer das alles nicht wissen mag, solle die Konsequenz ziehen: Man kann ein Buch, kann die Lektüre auch dieses Buches früh beenden. Was niemandem geraten sei, dem am Erlebnis Kunst und der Begegnung mit Künstlern gelegen ist. In dem mehr als zwanzig Seiten starken Personenregister tauchen nicht nur die schon im ersten Band oft erwähnten Hochhuth, Enzensberger und Grass auf, sondern auch Joachim Fest, Katharina Thalbach und immer wieder der Raddatz so nahestehende Maler Paul Wunderlich: Das berührende Porträt von einem, der von den Höhen seiner selbst bis zum Schatten seiner selbst abstürzt. Durchweg sind auch diese Tagebücher so lesenswert wie die vorangegangenen, bewegend nicht selten und stets aufschlußreich. Die Arbeit daran wurde im Winter 2012 beendet, als Raddatz spürte, es sei »time to say goodbye«. Fortan liest er, statt zu schreiben, »fast behaglich-genüßlich« Massen alter Publikationen (für den Rowohlt-Essayband) und – findet das meiste davon »gut«.
Walter Kaufmann
Fritz J. Raddatz: »Tagebücher 2002 – 2012«, Rowohlt Verlag, 718 Seiten 24,95 €
Volker Braun
In den Sechzigerjahren hatte die Lyrik in der DDR Hochkonjunktur. Lesungen und Veranstaltungen wie »Jazz und Lyrik« waren gut besucht. Günter Kunert, Volker Braun, Rainer und Sarah Kirsch, Bernd Jentzsch, Karl Mickel, Adolf Endler, Heinz Czechowski oder Rainer Kunze – sie hatten Kultstatus. Einige verließen nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann den sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat. Einer, der blieb, war Volker Braun, und dennoch galt er schon vor 1989 als gesamtdeutscher Autor. Trotz seiner Kritik, vor allem an den Parteifunktionären, bezog der kritische Optimist nie dissidente Positionen, sondern fühlte sich sozialistischen Utopien verpflichtet. Braun war kein Autor, der lautstark auf die Barrikaden ging. Seine ersten Gedichtbände und Stücke standen in der Nachfolge seiner Vorbilder Bertolt Brecht und Wladimir Majakowski. Bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000 beschrieb sich Braun als Verfechter »einer alles Gewesene und Gedachte übersteigenden Alternative«. Seine Leser läßt Braun an seinen künstlerischen und politischen Ansichten teilhaben.
Volker Braun (geb. am 7. Mai 1939 in Dresden) arbeitete zunächst als Dramaturg am Deutschen Theater und bestimmte dann 13 Jahre lang das dramaturgische Profil des Berliner Ensembles. Seine Bücher wurden häufig »hüben und drüben« der innerdeutschen Grenze gedruckt, oft im Westen sogar früher. Auch die ostdeutschen Aufführungen seiner Theaterstücke waren manchmal Nachzügler westdeutscher Uraufführungen. Wie Christa Wolf und Heiner Müller wurde auch Volker Braun mit zahlreichen Preisen bedacht – auch im Westen, wo sein vielschichtiges Werk (bis heute) vom Suhrkamp Verlag betreut wird.
Zum 75. Geburtstag würdigen einige Verlage Volker Braun. So ist im Suhrkamp Verlag der zweite Band »Werk-tage 1990 – 2008« erschienen (s. Christel Bergers Beitrag »Denk-Werk«). Der Leipziger Lehmstedt Verlag wartet zum Jubiläum mit einer besonderen Publikation auf: »Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt«. Hier kommt der Jubilar überhaupt nicht zu Wort, vielmehr Weggefährten, Künstlerkollegen und Verehrer. Die Literaturwissenschaftler Michael Opitz und Erdmut Wizisla luden mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren ein, mit Volker Braun quasi in einen künstlerischen Dialog zu treten, und zahlreich folgten diese der Einladung. Die Teilnehmerliste liest sich wie das Who is Who der deutschen Gegenwartskunst und -literatur. Eine gesamtdeutsche Würdigung.
So vielfältig und zahlreich die Gratulanten sind, so mannigfaltig sind auch die Beiträge: Gedichte, Prosatexte mit Erinnerungen und – neben diesen literarischen Widmungen – auch 22 künstlerische Beilagen: Zeichnungen, Radierungen und Collagen. So ist für den Leser ein interessantes »Zwiegespräch mit Volker Braun« entstanden.
Volker Braun verkörpert die deutsch-deutsche Literatur und Geschichte wie nur wenige seiner Generation. Stets war und ist er ein kritischer Begleiter seiner gesellschaftlichen Umwelt und seiner eigenen facettenreichen Arbeit.
Manfred Orlick
Michael Opitz/Erdmut Wizisla: »Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt – Im Zwiegespräch mit Volker Braun«, Lehmstedt Verlag, 264 Seiten, 29,90 €
Denk-Werk
Erlebnisse des Tages, Lektüre-Notate, Reiseeindrücke, Begegnungen, Privates und Philosophisches, Verschlüsseltes, Tagespolitik, Kurzporträts (hervorragend: Wolfgang Hilbig oder Peter Rühmkorf!), Beobachtungen, Träume, Notizen zur Rolle der Arbeit, zur Aufgabe der Gesellschaft, zur Kunst und zur Utopie, das Verhältnis von oben/unten, arm/reich, Gegenwart/Vergangenheit, Norden/Süden, Zeitungslektüre, Funde und Überlegungen zu gerade entstehenden Texten, was in der Zeitung stand und was im Freundeskreis diskutiert wird, Kryptisches, Komisches, Sarkastisches, Böses, Lächerliches ...
Volker Brauns Fortsetzung »Werktage. Arbeitsbuch 1990 – 2008« ist wieder eine Fundgrube an klugen Gedanken und genauen Beobachtungen in einer Sprache, die – selbst wenn man nicht alles versteht – süchtig machen kann. Zu Beginn dominieren Wendeerfahrungen, die 1993 in die Sätze münden: »das deprimierende an der frist seit 1989: daß es nichts zu lernen gab, daß sie uns nicht klüger machte. kein neues thema. nur der krieg zeigt ein paar neue ausfallschritte.« Dem folgt eine grandiose, höchst uneitle Selbstbehauptung: Brauns Themen, seine Stoffe, seine Sicht im Kontext der Zeit. Beeindruckend!
Christel Berger
Volker Braun: »Werktage. Arbeitsbuch 1990 – 2008«, Suhrkamp, 999 Seiten, 39,95 €
Zuschrift an die Lokalpresse
Nur gut, daß unsere Medien nicht nur politische Highlights aufgreifen, sondern auch tieferliegende Ebenen anfassen. Da hat sich doch der Bürgermeister von Amstelveen ein dolles Ding geleistet! Er hat seine kommunalpolitische Hand beim Königlichen Familienbesuch um das glücklicherweise bekleidete Hinterteil von Königin Maxima geschlungen. Was sagen Sie denn dazu? Ja, glaubt der denn, er liegt mit der Monarchin auf derselben blaublütigen Ebene, und nur, weil er zufällig de Graaf heißt? Seit dieser Entgleisung ist in den Niederlanden nichts mehr so, wie es vorher war. Als ich voller Abscheu über den unentschuldbaren Fauxpas, was ja übersetzt »Fehltritt« heißt, nachdachte, fiel mir der legendäre Oberst Ollendorff ein, der einst seine DNA-Spuren auf den Schultern einer adelsstolzen Dame hinterließ. Sie kennen doch sicher noch seinen Klagehit »Ach, ich hab‘ sie ja nur auf die Schulter geküßt«? Wenn ich mich recht erinnere, hat das damals nicht nur zu einem bewaffneten Angriff mit einem Fächer, sondern auch zur militärischen Eskalation in der Balkanregion geführt. Nun liegt Amstelveen zwar nicht gerade auf dem Balkan, aber in NSA-Zeiten kann sowas nirgendwo unter den Teppich gekehrt werden. Ich finde, der Bürgermeister sollte sich bei Ihrer Exzellenz entschuldigen und dabei die aufmüpfige Hand in einer Schlinge tragen! – Ludwig Liebetraut (43), Fleischbeschauer, 98553 Hinternah
Wolfgang Helfritsch