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Titel1115

Winkler auf Dregger-Kurs  (Conrad Taler)

Die Rede war der Regierungspolitik auf den Leib geschneidert. Was der Historiker Heinrich August Winkler zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im Bundestag gesagt hat, stimmt in allen wichtigen Fragen mit der Politik überein, die nach der deutschen Vereinigung von den jeweiligen Bundesregierungen gemacht worden ist. Kern seiner Aussage: Deutschland müsse bei aller Anerkenntnis deutscher Schuld aus dem Schatten seiner Vergangenheit heraustreten. Weder aus dem Holocaust noch aus anderen nationalsozialistischen Verbrechen lasse sich »ein deutsches Recht auf Wegsehen« ableiten. Bislang hat niemand ein Recht auf Wegsehen geltend gemacht. Gelegentlich heißt es zwar, wir dürften nicht wegsehen, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten würden. Das ist etwas ganz anderes, das ist eine moralische Position. Nach Winklers Meinung darf es eine »deutsche Sondermoral« allerdings nicht geben.


Hinter den Floskeln von einem unzulässigen »Recht auf Wegsehen« und einer ebenso unzulässigen »deutschen Sondermoral« steckt die Aufforderung, aus der Vergangenheit herrührende Hemmungen endlich beiseite zu lassen und im Sinne der »Schutzverantwortung der Völkergemeinschaft« tätig zu werden, mit der das vermeintliche Recht auf »humanitäre Intervention« gemeint ist. In der Charta der Vereinten Nationen ist weder das eine noch das andere verankert. Die völkerrechtliche Zulässigkeit der humanitären Intervention ist deswegen umstritten. Sie widerspricht dem Prinzip der Souveränität und der territorialen Unverletzbarkeit. Mit den Begriffen »Schutzverantwortung« und »humanitäre Intervention« soll die Charta der Vereinten Nationen ausgehebelt und die langfristig angelegte Diskussion über eine neue Verteilung der Sitze im Weltsicherheitsrat befeuert werden.


Weil es für den Krieg gegen das Gaddafi-Regime kein UNO-Mandat gab, hat sich die NATO, wie bereits im Falle des Angriffs auf Jugoslawien, unter Berufung auf das vermeintliche Recht auf humanitäre Intervention selbst zum militärischen Eingreifen ermächtigt. Was Jugoslawien betrifft, so hat eine von der SPD geführte Bundesregierung diesen Völkerrechtsbruch mitgemacht. Was Libyen angeht, so hat eine von der CDU geführte Bundesregierung Nein gesagt. Sie wurde und wird deswegen immer noch kritisiert. Mit seiner Position leitet Winkler den Scharfmachern Wasser auf die Mühle. Er appellierte an die Deutschen, sich durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen zu lassen. Der CDU-Politiker Alfred Dregger drückte sich seinerzeit etwas anders aus. Er sagte 1983, die Deutschen sollten endlich »aus dem Schatten Hitlers« heraustreten und normal werden.