Es ist ein dünnes Werbeheftchen, DIN A5. Wie ich in seinen Besitz gelangte, weiß ich nicht zu sagen. War es eine milde separate Gabe in meinen Briefkasten oder eine Beilage in einer Tageszeitung? Wie dem auch sei, es liegt vor mir und trägt den Titel: »2015 taz-Reisen«. Und wohin gehen die Reisen? »In die Zivilgesellschaften«, heißt es. Das klingt gut und hat einen intellektuellen Beiklang. Aber was sind die gegenwärtig geradezu inflationär heruntergeschnurrten »Zivilgesellschaften« im Unterschied zu anderen Gesellschaften? In »Meyers Neuem Lexikon« von 1993 ist der Begriff nicht zu finden. Wikipedia ist da auskunftsfreudiger: »Zivilgesellschaft bezeichnet im modernen Sprachgebrauch … einen Bestandteil von Gesellschaft beziehungsweise eine Art von Gesellschaft, die nicht Auswuchs staatlichen Handelns ist, sondern sich dem Handeln und der Kooperation einzelner Menschen oder gesellschaftlicher Gruppen verdankt.« Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gibt eine ähnliche, wenn auch leicht verwirrende Auskunft: »Aus normativer Perspektive wird Zivilgesellschaft mit einem demokratischen Gemeinwesen und einer gerechten Gesellschaft gleichgesetzt. Die habituelle Perspektive bezieht sich auf einen bestimmten Typus sozialen Handelns.« Selbst Maecenata, das »Institut für Zivilgesellschaft« an der Berliner Humboldt-Universität, ist sich nicht ganz schlüssig und meint: »Zivilgesellschaft ist in Politik, Öffentlichkeit und Medien ein immer häufiger verwendeter Begriff. Allerdings ist selbst Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in zivilgesellschaftlichen Organisationen (Vereinen, Verbänden, Stiftungen und so weiter) oft unklar, was sich dahinter genau verbirgt, umso mehr, als selbst unter Experten keine völlige Einigkeit darüber besteht.« Kurz und gut, das taz-Werbeheftchen teilt mit, daß es sich um »Gruppenreisen für Individualisten« von A bis V, von Albanien bis Vietnam, handelt. Wie wahre Individualisten, also Bürger, die von der Gemeinschaft unabhängig sein möchten, sich ausgerechnet für Gruppenreisen interessieren sollen, ist ein kleines taz-Rätsel.
Kein Geheimnis macht das Blatt allerdings aus der »Besonderheit unserer Reisen: Sie werden von Journalisten und Autoren der taz konzipiert und begleitet, die viele persönliche Kontakte zur Zivilgesellschaft besitzen.« So kann sich der gruppenreisende Individualist auf viele Erlebnisse freuen, die »den Blick schärfen«.
Auf geht’s, darunter in das Reich Putins und in das ehemalige Jugoslawien. Reiseleiter nach Moskau ist Bernhard Clasen, der seit 1992 für die taz aus Rußland und seit 2014 aus der Ukraine berichtet. Unter seiner kundigen Führung sind vor allem Treffen mit Bürgerrechtsgruppen vorgesehen, und so werden denn die oppositionelle Tageszeitung Novaja Gazeta, die Menschenrechtsorganisation Memorial, die Moskauer Büros von Amnesty International, Greenpeace und der Heinrich-Böll-Stiftung besucht. Ein Höhepunkt der Zivilgesellschaftsreise wird der Besuch bei Memorial sein, der Organisation, die 1988 von Andrej Sacharow gegründet und vor allem von der gut bekannten freiheits- und revolutionsfördernden US-amerikanischen Soros-Stiftung und von der Böll-Stiftung der einst grünen und mittlerweile olivgrünen deutschen Partei finanziell unterstützt wird. Der 7-Tage-Moskau-Ausflug ab 1.595 Euro und die erkenntnisgewinnenden Informationsgespräche werden ganz sicherlich zur Verbesserung der deutsch-russischen Beziehungen beitragen. Übrigens: Auch die Architektur der Metro-Bahnhöfe soll besichtigt werden.
Mehr zu sehen und zu hören wird es geben, wenn es in drei Reisen nach Kroatien und Serbien, Albanien und Kosovo, Bosnien und Herzegowina geht. Reiseführer ist ein nicht ganz unbekannter Experte für Ex-Jugoslawien, der sich vor Jahren in Sarajewo und im schönen Split an der Adria niedergelassen hat: Erich Rathfelder. Er ist ein »Reiseleiter mit besten Kontakten« und wird zum Beispiel helfen, »mehr über den bosnischen Krieg 1992–1995 und seine Folgen für die Gesellschaft« sowie »die Geschichte dieses Vielvölkerraumes« zu erfahren. Keiner ist für diese Erkundungsmission geeigneter als Herr Rathfelder, furchtloser Kriegsreporter während der blutigen jugoslawischen Bürgerkriege.
Als verketzerter »lügender Serbenfresser« (Wiglaf Droste) tat er sein Bestes, um zur Zerschlagung der multinationalen »Mißgeburt« (Ex-FAZ-Herausgeber Johann Georg Reißmüller) namens Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien durch die NATO beizutragen sowie die verbrecherischen Untaten der Serben anzuprangern. So klagte er sie im Oktober 1992 an: »Das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird tagtäglich fortgesetzt: Vertreibungen, Morde, Vergewaltigungen, andere Folterungen, standrechtliche Erschießungen ...«
Einige Jahre später, als die UCK, anfangs von den USA fälschlicherweise als »Terrororganisation« betrachtet, ihren antiserbischen Freiheits- und Unabhängigkeitskampf führte, stand er fest auf ihrer Seite. Ihm war es zu einem großen Teil zu verdanken, daß die Greueltaten der serbischen Soldateska im autonomen Gebiet Kosovo ans Licht kamen.
Im Sommer 1998 entdeckte er gemeinsam mit dem US-amerikanischen Journalisten Roy Gutman, der für die berühmte Agentur Ruder and Finn arbeitete, auf einer Müllhalde in Kosovo und Metochien bei Orahovac »Massengräber«, in denen die Serben angeblich »mehr als 567 Menschen«, darunter »430 Kinder«, verscharrt hatten. Die grausige Entdeckung, über die die taz auf Seite 1 berichtete, machte in aller Welt Schlagzeilen. Dumm war nur, daß die Regierung in Belgrad internationale Beobachter herbeirief, die die Presseberichte vollständig widerlegten und sie als Lug und Trug entlarvten. Selbst die taz mußte es verschämt eingestehen, und zähneknirschend hinnehmen, daß Rathfelder des Landes verwiesen wurde. In den NATO-Staaten fand das Dementi nur ein geringes, Rathfelders Ausweisung dagegen ein großes Echo. Mit der »Aufdeckung« der grausigen, wenn auch nicht geschehenen Tat waren die Serben letztlich ein weiteres Mal als »barbarische Kindesmörder« stigmatisiert, als ein Vorläufer des inszenierten Račak-Massakers hatte sie die propagandistische Vorbereitung der barbarischen, völkerrechtswidrigen NATO-Intervention unter deutscher Beteiligung ein gutes Stück vorangebracht.
Daß der Reiseleiter Rathfelder den gruppenreisenden Individualisten über seine »Entdeckung« des Massengrabes von Orahovac berichten wird, ist zu bezweifeln. Aber ganz gewiß wird er sie über die Missetaten der Serben und ihres in Den Haag zu Tode gebrachten Anführers Slobodan Milošević aufklären. Reisen bildet, vor allem wenn es sich um Ausflüge in die Zivilgesellschaft handelt. Schon Johann Wolfgang von Goethe wußte in Wilhelm Meisters Lehrjahren: »Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.«