Es war für ihn nur eine kleine Episode, die des aktiven Politikers. Er schob sie Mitte der 90er Jahre ein, als parteiloser Bundestagsabgeordneter für die damalige PDS. In seiner letzten Rede im Parlament zitierte er einen Schriftstellerkollegen, daß jeder Krieg bei den Militärs eine Art militärische Perversion erzeuge, und fügte an: »Ich fürchte, die Militärs sind in der Zwischenzeit schon ein Stück weiter. Die militärische Perversion liegt als Verführung eher bei den mächtigen Politikern.« Das Bundestagsprotokoll notierte den 24. Juni 1998, die Adressaten beeilten sich, der Befürchtung recht zu geben – nur zehn Monate darauf trat das wieder groß gewordene Deutschland in seinen ersten Nachkriegskrieg ein.
Gerhard Zwerenz ist der einzige Deserteur der Nazi-Wehrmacht, der jemals im Bundestag saß. Und er blieb dort, was diese Blamage (nicht seine, sondern die des deutschen Parlaments!) betraf, geradezu zurückhaltend und galant. In einer Debatte, in der es um die zu jener Zeit immer noch rechtskräftigen Nazi-Urteile gegen »Fahnenflüchtige« ging, stellte er sich selbst und dem Plenum die Frage: »Wie kann ich bestimmten Leuten in diesem Haus erklären, weshalb ich in der Zeit an der Front mehr Scham als Angst, und bei der Desertion große Angst, aber endlich keine Scham mehr empfunden habe? Ich muß gestehen, ich kann dies nicht erklären.« Er begnügte sich damit, die Konservativen darauf aufmerksam zu machen, daß wer die Urteile nicht von Grund auf für nichtig erklären wolle, die Marschbefehle der Wehrmacht, mithin den Eroberungs- und Vernichtungskrieg Deutschlands im nachhinein legitimiere.
Zwerenz brauchte für seine Kurzanalyse gerade mal eine Minute und stellte dem Plenum die restliche ihm zustehende Redezeit »zum Nachdenken über diesen unglaublichen Fall von Verspätung« zur Verfügung, der mit dem bereits 50jährigen Fortbestand von Nazi-Unrecht eingetreten war. So redet und handelt jemand, der beharrlich und durch keine Unvernunft erschrocken auf Erkenntnis zielt. Doch das Parlament spulte sein Rederitual stur ab, Nachdenken sah und sieht die Geschäftsordnung nicht vor. Ein Positivum bleibt: 1998 wurden die Urteile des Volksgerichtshofes und der Standgerichte, 2002 auch die Militärgerichtsurteile gegen Deserteure pauschal aufgehoben, 2009 schließlich auch die gegen »Kriegsverräter«. Daß dies, wenn auch zögerlich, geschah, ist unter anderen Gerhard Zwerenz zu verdanken.
Die Auseinandersetzung mit dem Krieg, mit der Schuld seiner Verursacher und Befehlsgeber und der teils bewußtlosen, teils verführten Gefolgschaft der Soldaten hat Zwerenz sein ganzes Leben lang nicht losgelassen. Sie ist Thema in vielen seiner über hundert Bücher und wohl reichlich mehr als tausend Aufsätzen, Essays und anderen Wortmeldungen, mit drastischen Tönen und Farben. Für den Bloch-Schüler besteht Aufhellung »nicht darin, den Himmel zu malen, sondern die Hölle zu erklären«. Und weil Literatur, Kultur überhaupt, für ihn mehr als eine erbauliche Angelegenheit ist, will er nicht nur Erkenntnis, sondern auch deren Konsequenz: eine Einmischung der Individuen. Zwerenz‘ Bücher und Texte verfolgen diese Absicht nicht propagandistisch, sondern unaufdringlich.
An einen seiner vielerorts vergessenen Romane sei hier aus gegebenem Anlaß besonders erinnert: »Salut für einen alten Poeten«, eine Erzählung, in der Zwerenz aus der Zukunft auf die Welt im Heute blickt. Das Heute waren, als er diese Fiktion schrieb, die 70er Jahre, die Zukunft das inzwischen längst verflossene 1994. Den Menschen waren die Revolten ausgetrieben worden, die Liebe auch, nur wenige widersetzten sich noch der Anpassung. Zwerenz läßt seinen Poeten ein Amt zur Tilgung von Büchern vorschlagen, das auch seine eigenen Bücher zur Hälfte streichen soll, da diese gesellschaftskritisch und daher hinfällig seien. Es ist eine sarkastische Klage gegen eine auf Konsumrausch getrimmte Gesellschaft und deren Förderer in den Buchverlagen. Nach seiner Desertion aus der Wehrmacht und anschließend aus dem stalinistisch geprägten Sozialismus manifestierte Zwerenz mit diesem Roman seine Untauglichkeit auch für die empfindungsarmen Kolonnen des kapitalistischen Westens.
Nun: Am 3. Juni wird Gerhard Zwerenz 90 Jahre alt – Salut für einen alten Poeten! Ihm, dem Autor einst der Weltbühne, in jüngerer Zeit von Ossietzky und poetenladen.de, und der lieben Ingrid an seiner Seite alles Gute für alle weitere Zukunft. Als er 1991 den Alternativen Büchnerpreis erhielt, es war die Zeit des Zweiten Golfkriegs, sagte Walter Jens über den Antikriegsliteraten, Zwerenz sei »ärgerniserregend«, stehe »immer zwischen den Fronten, Schläge austeilend: Schriftsteller wie er sind in einem Augenblick wie dem jetzigen wichtiger denn je.« Daran ist, blicken wir um uns, nichts flüchtig geworden.
In dem 2008 erschienenen Gesprächsband »Gerhard Zwerenz. Weder Kain noch Abel« gibt Jürgen Reents Einblicke in Zwerenz‘ wechselvolles Leben und in die gesellschaftlichen und politischen Umstände zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, der DDR und der BRD (Das Neue Leben, 224 Seiten, 16,90 €).