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Titel1116

Die Geschichte mit Friederike  (Eckart Spoo)

Der Herrschaftsapparat läuft. Geschmiert. Dagegen ist, wie wir zu wissen glauben oder uns jedenfalls gern einreden lassen, nichts zu machen. Wenn jemand behauptet, wir könnten etwas tun und damit sogar etwas bewirken, dann fühlen wir uns angegriffen. Wir wollen uns unsere Passivität nicht zum Vorwurf machen lassen. Ich kenne das. Es gab Gelegenheiten, da hätte ich Nein sagen sollen. Da hätte ich sofort dazwischenfunken können. Da hätte ich nicht schweigen dürfen. Zum Beispiel Anfang der 1990er Jahre bei einer Pressekonferenz mit Michail Gorbatschow, als ich es bänglich unterließ, ihm eine ganz einfache, naheliegende Frage zu stellen. Ich werde es Ihnen später erzählen oder ein andermal; erinnern Sie mich bitte, falls ich es vergesse. Jetzt habe ich eine andere Geschichte auf der Zunge: die Geschichte mit Friederike.


In einer niedersächsischen Kleinstadt, in der Bundeswehr-Einheiten stationiert waren, sollte ein Gelöbnis zelebriert werden. Die örtliche Friedensinitiative verteilte Flugblätter, mit denen sie vor immer stärkerer, immer gefährlicherer, immer teurerer Aufrüstung warnte. Mit einer jungen Frau, die mir ein Flugblatt in die Hand drückte, kam ich ins Gespräch. Sie begleitete mich – oder ich sie – zum Festplatz, auf dem das militaristische Spektakel stattfinden sollte.


In einem großen Karree hatten sich die zu vereidigenden Rekruten, die Offiziere, denen sie künftig gehorchen sollten, die Honoratioren der Stadt und des umgebenden Landkreises sowie viele Mütter, Väter und Geschwister der jungen Soldaten aufgestellt, jeder auf seinem vorbestimmten Platz. Nicht zu vergessen auch die Blasmusiker. Fackeln wurden angezündet, während das Tageslicht allmählich verblasste. Hell angestrahlt war eine Plattform, die in das Karree hineinragte; an ihrem vorderen Ende stand das Rednerpult.


Alle Gespräche verstummten. Gleich musste der erste Redner auftreten. Flüsternd sagte ich der Flugblattverteilerin, mit der ich nach einem Rundgang am hinteren Ende der Plattform angelangt war: »Da vorn müsste jetzt jemand Euer Flugblatt vorlesen.« Es dauerte keine drei Sekunden, bis sie den Einfall auf sich bezog und zum Mikrofon schritt: schlank, langes blondes Haar, helles Sommerkleid.


Die Abiturientin Friederike – so viel hatte ich von ihr erfahren – kannte den Text gut genug, um ihn ganz ruhig, mit klarer, fester Stimme vorlesen zu können, Satz für Satz. Jeder wirkte plausibel Die Lautsprecheranlage funktionierte. Unvorstellbar, dass hier irgendetwas nicht programmgemäß ablief. Fasziniert von dem Anblick und der Stimme blieben die Angetretenen starr und still. Friederike konnte einen weiteren Satz gegen die Militarisierung der Politik vortragen und dann noch einen, bis Unruhe aufkam und Offiziere zu ihr traten, um den störenden Engel aus dem Scheinwerferlicht zurückzudrängen.


Das ist etliche Jahre her. Aber ich vermute, dass sich diese Szene nicht wenigen Menschen in der kleinen niedersächsischen Stadt eingeprägt hat. Wie oft kommt es denn vor, dass jemand es nicht beim billigen »Jetzt müsste jemand …« belässt.
Um die Geschichte zu vervollständigen: Hin und wieder höre oder lese ich von Friederike Habermanns emanzipatorischen Ideen und Aktivitäten. Für mich ist das jedes Mal ein Moment der Freude.