So war es einmal gedacht: Ein geeinter, friedlicher, vorbildlicher Kontinent, eine Hymne an die Freude, eine harmonische Völkerfamilie. Nach den großen Weltkriegen tauchte diese idealistische Vision im kriegsmüden Europa auf, vor allem die paneuropäische Bewegung des Grafen Richard Coudenhove-Kalergi (1894 – 1972) und Jean Monnet (1888-1979) waren deren Protagonisten. In der Nazi-ideologie gab es nur Raum für ein deutsches Europa. Erst 1944, als die deutschen Allmachtsfantasien obsolet waren, tauchte plötzlich ein Begriff auf: die Festung Europa. Die Völker des Kontinents, die in der Hybris scheinbar endloser Siege nur als Heloten oder Sklaven vorgekommen waren, sollten das germanische Europa retten. Nach 1945 wurde der europäische Gedanke bald durch den Kalten Krieg dominiert, Westeuropa wurde ein Wirtschaftswunder spendiert. Im April 1951 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) gegründet. Der Vorläufer der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beinhaltete schon das Primat der Ökonomie, was sich dann später auch im Namen manifestierte. Als die Wirtschaftsgemeinschaft nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1993 schließlich in Europäische Union umbenannt wurde, schien sich die Vision eines politisch vereinten Europas zu verwirklichen. Aber es ging leider nur um neue Märkte und Erleichterungen für Konzerne und Banken. Mit der Aufhebung der Grenzkontrollen und der Einführung der Einheitswährung wurde das Primat der Ökonomie zementiert. Das wiedervereinigte Deutschland setzte sich schnell an die Spitze dieser Marktunion und wurde bald zur ökonomischen und auch politischen Führungsmacht.
Die Eurozone entwickelte nach und nach gesetzliche und institutionelle Instrumentarien, die es keiner Regierung mehr erlaubten, eine Sozial- und Wirtschaftspolitik anzuwenden, die der neoliberalen Maxime der absoluten Deregulierung widersprach. Mit der Einführung der Einheitswährung war es für die europäischen Völker selbst durch Wahlen nicht mehr möglich, die Leitlinien ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik zu bestimmen. Erlaubt blieben Sparprogramme, liberalisierte Arbeitsmärkte und Privatisierungen.
Zwischen den EU-Ländern im Zentrum und jenen in Randlage wurden die Widersprüche immer stärker, was vor allem die Griechen bis heute zu spüren bekommen. Grexit, der Austritt Griechenlands aus der EU wird von Schäuble und Co. geradezu herbeigebetet, während ein Brexit oder gar ein Nexit als Katastrophe an die Wand gemalt werden. Mit der »Flüchtlingskrise« 2015 wurde schließlich offenbar, wie fragil ein auf Wirtschaftsinteressen fixierter Staatenbund ist. Die meisten EU-Länder lehnten die Aufnahme von Flüchtlingen ab und ließen den Hegemon spüren, dass noch nicht alles in Berlin entschieden und in Europa nicht nur deutsch gesprochen wird. Darauf folgte die Auferstehung der 1944 gescheiterten »Festung Europa«, doch diesmal wurde diese deutsche Idee von fast allen Ländern dankbar aufgenommen. Ein tief gestaffeltes System von Sperren wird errichtet, und wer es durch das Mittelmeer schaffen sollte, wird spätestens am Brenner aufgehalten.
Seit die Europäische Union von einer Krise in die nächste schlittert, wächst in den Völkern Europas das Unbehagen gegen die EU und ihre Institutionen. Waren es zunächst nur die Länder der europäischen Peripherie, welche sich mit einem wachsenden Souveränitätsverlust und steigender Armut konfrontiert sahen, so fühlen sich längst auch zentrale Länder wie Italien, Spanien und Frankreich als Verlierer des EU-Systems, welches doch angeblich geschaffen worden war, damit es allen besser ginge. Stattdessen herrscht in einer entsolidarisierten Gesellschaft, in der jeder für sich selbst verantwortlich sein soll, das Recht des Stärkeren.
Nur Konsument sein zu dürfen reicht offenbar nicht. Es wäre naiv zu glauben, dass alle, die mit dem Euro bezahlen, sich als EU-Bürger empfinden. Nicht mal als Europäer. Der Euro war ein vergiftetes Geschenk. Sich als Bürger eines Kontinents zu definieren ist zusehends obsolet geworden. Daher besinnen sich viele auf das eigene Land, die Nation. Oder das engere Umfeld, die Nachbarn, das Dorf, das Stadtviertel. Das wachsende Gefühl der Fremdbestimmung, die eigene Ohnmacht gegenüber Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg, das tiefe Misstrauen gegenüber den Entscheidern in Brüssel führt zu Resignation oder Revolte. Überall erleiden die klassischen politischen Parteien dramatische Verluste. Die verzweifelte Suche nach Identität spielt sich in den europäischen Ländern nicht in gleicher Weise ab. Je nach den von historischen Erfahrungen geprägten Mentalitäten bekommen faschistoide Parteien und Bewegungen Zulauf. Vor allem in Ländern wie Polen, Ungarn, der Slowakei, Kroatien, Österreich und Frankreich scheinen die politischen Ideen der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts wieder lebendig zu werden. In Deutschland verbleichen die historisch bedingten Verbotsschilder, und eine diffuse völkische Alternative suhlt sich in zweistelligen Wahlergebnissen. England, welches sich ohnehin nie dem continent wirklich zugehörig fühlte (Churchill sprach in seiner Zürcher Rede 1946 von einem vereinten Europa, welches mit England freundschaftlich verbunden sein sollte), sieht sich als Hüter des unbedingten freien Marktes und treibt die EU zum Offenbarungseid.
Wenn im Juni das britische Plebiszit den Austritt aus der EU herbeiführen würde, wäre dieser Brexit für die Völker Europas eine gute Sache. Falls die Briten für einen Verbleib in der EU votieren, wäre die Rückkehr zur alten EWG vorprogrammiert, eine von den wirtschaftlich starken Ländern dominierte Freihandelszone, wie sie übrigens auch von der AfD gefordert wird. Da diese Union nicht reformierbar ist, böte ein Austritt Großbritanniens sowie weiterer Länder die Chance, auf den Trümmern eines gescheiterten Wirtschafts- und Kapitalverbundes ein wahrhaft soziales und solidarisches Europa aufzubauen.
Viel zu spät suchte die europäische Linke nach einer politischen Alternative zum unbedingten Marktkonformismus von Konservativen und Sozialdemokraten. In die entstandene Lücke drängten sich in ganz Europa rechtsextreme Parteien und Gruppierungen, die das diffuse Unbehagen einer missachteten Wählerschaft auf einen mit Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit gepflasterten Weg führte. In allen Ländern gibt es linke Bewegungen, in denen viel diskutiert und analysiert wird. Was fehlt, ist die zugegebenermaßen mühevolle Basisarbeit, die praktische Unterstützung jener, die unter den Spardiktaten leiden, Rechtshilfe für Menschen, die an den Maßnahmen des Systems verzweifeln. Erste Ansätze gab es in Spanien anlässlich der massenhaften Exmittierung von verschuldeten Wohnungsbesitzern.
Anfang des Jahres gab es in Paris, Berlin und Madrid Treffen linker europäischer Bewegungen, um die Linke zu einigen und über ein wahrhaft demokratisches Europa im Dienst der Völker zu reden. Nachdem es schon im Januar in Paris ein Treffen zu einem »Plan B« gegeben hatte, wurde Anfang Februar in Berlin die Bewegung DiEM 25 – Democracy in Europe Movement 2025 mit Yanis Varoufakis ins Leben gerufen. Ende Februar wurde in Madrid die Idee eines »Plan B für Europa« wieder aufgenommen. Mehr als 13.000 Spanier hatten den »Aufruf gegen Sparpolitik und Schuldenherrschaft« unterschrieben. Darin wird gefordert, »einen Platz für Ideen zu schaffen, auf dem alle Bewegungen, Personen und Organisationen, die gegen das derzeitige Modell der EU sind, einen gemeinsamen Zeitplan für Aktionen, Projekte und Ziele diskutieren und ausarbeiten können. Das wichtigste Ziel ist es dabei, mit dem Sparregime der EU zu brechen und die europäischen Institutionen radikal zu demokratisieren.«
Nicht alle Teilnehmer gaben sich der Illusion hin, die EU demokratisieren zu können. Die spanische Politikerin Marina Albiol, Europaabgeordnete der Izquierda Unida (Vereinigte Linke), machte klar: »Diese Europa ist nicht reformierbar. Deshalb sind wir gekommen, um es zu zerschlagen, ihre Regeln zu zerschlagen und uns das zurückzuholen, was sie uns gestohlen haben.« (Le grand soir, 8.3.2016, Übersetzung Ch. Z.) Varoufakis stellte in Madrid sein Projekt DiEM 25 vor und rief zur Bildung internationaler Brigaden auf, um Europa die Demokratie zurückzugeben. Die ehemalige griechische Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou beeindruckte mit ihrer Forderung, die Schulden nicht zu bezahlen, wobei sie ihren Appell allerdings an die europäischen Regierungen richtete. Doch welche Regierung würde an eine solche im kapitalistischen Katechismus als Todsünde gebrandmarkte Maßnahme auch nur zu denken wagen?
In diesem Staatenbund haben längst Lobbyisten und Pöstchenjäger die Macht übernommen und pfeifen auf europäische Ideale.
Befürworter der EU werden nicht müde, das neoliberale Wirtschaftsgebilde EU mit Europa gleichzusetzen und verdammen die EU-Kritiker als Antieuropäer. Umgekehrt jedoch wird ein Schuh daraus: Wer ein solidarisches Europa will, muss die EU ablehnen.
Das Projekt ist gescheitert, dieser Gemeinschaft ist nicht mehr zu helfen.