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Wohnungsmarkt: Droht neue Abbruchwelle?  (Joachim Maiworm)

Es erscheint nur auf den ersten Blick paradox: Die Wohnungsnot grassiert, die Nachfrage nach preiswertem Wohnraum ist vor allem in den Ballungsgebieten ungebrochen. Die Bundesregierung will deshalb den privaten Wohnungsbau mit neuen Steueranreizen ankurbeln, Mieterverbände setzen sich für den Ausbau kommunaler Bestände ein. Die Immobilienwirtschaft aber fordert einen staatlich geförderten und konsequenten Abriss von Wohngebäuden. Die Verwunderung darüber legt sich schnell nach der Lektüre einer Studie, die die Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen (Arge) Kiel und das Pestel-Institut aus Hannover Anfang April präsentierten (»Bestandsersatz 2.0. Potenziale und Chancen«). Die Autoren wollen belegen, dass durch Abriss und anschließenden Neubau von etwa zehn Prozent des heutigen Gebäudebestandes, das heißt von bundesweit 1,8 Millionen Wohngebäuden, zwei drängende Probleme des Wohnungsmarktes gelöst werden könnten: der Mangel an altersgerechten Wohnungen und die fehlende Energieeffizienz im Wohnungsbestand. Allein in Berlin müssten danach 45.000 Gebäude mit 175.000 maroden Wohnungen abgerissen werden, statt sie zu modernisieren. In der Studie werden die Kosten für verschiedene Modernisierungsvarianten mit denen des sogenannten Bestandsersatzes (Neubau) verglichen – mit dem Ergebnis, dass sich eine Komplettsanierung vor allem bei einem großen Teil der Wohnhäuser aus den 1950er bis 1970er Jahren wirtschaftlich nicht mehr rechnet. Rund zwei Drittel der zum Abriss vorgesehenen alten Gebäude stammen aus dieser Zeit. Es handele sich dabei um »Bröckel-Bauten«, die schlicht »abgewohnt« seien, vom Markt genommen und ersetzt werden müssten, wie einzelne Vertreter der Studie auf der Pressekonferenz am 5. April in Berlin berichteten.


Kritiker dagegen melden Widerspruch an: Sie halten den festgestellten Mangel an altersgerechtem Wohnraum, wonach über elf Millionen und damit 94 Prozent der Seniorenhaushalte über keine entsprechenden Wohnungen verfügen, für vollkommen überzogen. Vielfach reichten barrierearme statt -freie Wohnungen, die durch einen Umbau im Bestand billiger geschaffen werden könnten. Auch wird bestritten, dass der Abriss und ein anschließender Neubau ökonomisch günstiger als die Sanierung vorhandener Häuser seien, wie sich an praktischen Beispielen der »behutsamen Stadterneuerung« in Berlin zeigen ließe (vgl. MieterMagazin 3/2016). Unerwähnt bleibt in der aktuellen Studie, dass der Energiebedarf der Ersatzneubauten deutlich geringer sein muss als der von modernisierten Gebäuden. Denn der Aufwand an »grauer Energie«, der für Abriss, Entsorgung und Herstellung der Baustoffe anfällt, muss mitberücksichtigt werden. Darüber hinaus werden die sozialen Auswirkungen ausgeblendet. Dem Abriss folgen teure Neubauwohnungen, die Verdrängung der bisherigen Bestandsmieter ist bei zu erwartenden neuen Mieten von über zehn Euro kalt vorherzusehen. Preiswerter Wohnraum wird zugunsten hochpreisiger Wohnungen vernichtet. Die Aprilausgabe des Berliner MieterEcho berichtet deshalb über den aktuellen Kampf stadtpolitischer Initiativen gegen den geplanten Abbruch von Gebäudekomplexen und für den Erhalt des bestehenden Wohnraums.


Die Baulobby dagegen fühlt sich diskriminiert. Ihre zentrale politische Forderung lautet, dass der Gesetzgeber den Bestandsersatz finanziell in gleicher Weise wie die Modernisierung fördern und zudem behindernde Bauvorschriften lockern müsse. Hinter den klar formulierten politischen Interessen stehen als Auftraggeber der Studie die wichtigsten Lobbyverbände der deutschen Bau- und Immobilienbranche sowie – scheinbar überraschend – auch die Industriegewerkschaft Bau-Agrar-Umwelt. Die gibt sich opportunistisch: Einerseits setzt sie sich in Stellungnahmen für die Schaffung bezahlbaren Wohnraums ein, andererseits trägt sie eine Kampagne mit, die letztlich die Gentrifizierung von Wohngebieten fördert. Durch eine »Intensivierung des Bestandsersatzes«, heißt es beispielsweise in der vorgelegten Studie auf Seite 83, könnten »eine Vielzahl von Stadt- und Wohnquartieren unter städtebaulichen und sozialen Aspekten aufgewertet«, die neu gebauten Wohnungen also teurer als zuvor vermietet werden. Die Gewerkschaft beteiligt sich zudem an der 2004 gegründeten Initiative »Impulse für den Wohnungsbau«, der weitere 32 Branchenverbände der Bauwirtschaft sowie die Bundesarchitektenkammer und der Deutsche Mieterbund angehören. Auch sie fordert vor allem, »neue Anreize für den frei finanzierten Markt« zu schaffen, »eine Offensive zur Energieeffizienz bei Gebäuden« zu starten und das Wohnen »demografiesicherer« zu gestalten. Es sollen nicht in erster Linie preiswerte Wohnungen gebaut werden, sondern diese ganz im Gegenteil den Ersatzneubauten weichen. Im Namen des Klimaschutzes und einer seniorengerechten Ausstattungen von Wohnraum will auch die IG Bau am Immobilienboom und an der Aufwertung einzelner Wohngebiete partizipieren. Arbeitsplätze sollen gesichert beziehungsweise geschaffen werden – das Interesse der Gewerkschaftsmitglieder an bezahlbaren Wohnungen wird dabei ausgeblendet. Die IG Bau solle sich schämen, dabei mitzumachen, kommentierte der taz-Redakteur Martin Reeh in einem Beitrag (»Branche im Betongoldrausch«, taz, 6.4.16).


Die Verfechter des sogenannten Bestandsersatzes argumentieren dabei im Geist des Nachhaltigkeitsdiskurses der 1990er Jahre. Damals diente die »Effizienzrevolution« all denjenigen als Zauberwort, die der Vereinbarkeit von Ökologie und kapitalistischer Ökonomie, das heißt dem »grünen Kapitalismus«, das Wort redeten. Als »Gewinnerindustrie« wollte die Baulobby schon immer Profite aus der Umweltkrise (und der demografischen Entwicklung) ziehen und schreckt dabei nicht erst mit der neuen Studie nicht vor Szenarien zurück, in denen so manche Stadt und so mancher Landstrich in eine Dauerbaustelle verwandelt werden. Zumindest von einer Gewerkschaft hätte erwartet werden können, sich für den Erhalt bezahlbaren Wohnraums einzusetzen, statt sich für Abbruchorgien auszusprechen.