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In Medeas Kopf gesehen  (Monika Köhler)

Die Torte haben wir gegessen, die Besucher der Kunsthalle, die eingeladen hatte, den 90. Geburtstag von Geta Brătescu zusammen mit der Retrospektive ihres Werkes in Hamburg zu feiern. Die rumänische Künstlerin war nicht gekommen. Sie lebt – und arbeitet – bis heute in Bukarest. Vier Tage vorher war die alte Kunsthalle nach längeren Modernisierungsarbeiten wieder eröffnet worden. »Die Kunst ist zurück«, das Motto – war sie weg? Die Brătescu-Ausstellung aber findet in der Galerie der Gegenwart statt (bis 7.8.).


Das älteste Werk stammt aus den 1960er Jahren: eine Skulptur, »Stein gebärend« – das jüngste, abstrakt »Ohne Titel« (2012): eine Serie von Zeichnungen, Collagen, die den Kreis ins Zentrum stellen. Der Einband des Katalogs (192 Seiten, 24,80 Euro) ist eine dieser Collagen. Alles rot wie Blutgefäße, in der Mitte eine Wunde, ein Schussloch, das ausgestanzt scheint. An der Fassade der Galerie der Gegenwart hängt ein Porträt von Geta Brătescu. Dort ist sie schwarz verhüllt und schlägt ihre Hände vors Gesicht. Um nicht gesehen zu werden? Um nicht sehen zu müssen? Diese Schwarz-Weiß-Fotografie einer neunteiligen Reihe (2002/2013) nennt sie »alteritate« (rumänisch: Gefühl eines Ichs, ein anderer zu sein). In ihrer Collage von 1978 »Zensiertes Selbstporträt« hat sie mal die Augen, mal den Mund überklebt mit genau diesen fotografierten Teilen. Das Gesicht, weiß wie eine Maske. Drei Augen, welches ist das »richtige«?


Das Atelier – für sie Rückzugsort und Freiraum – findet sich in vielen Arbeiten wieder. Auf zwei Reisen nach Polen lernt sie Tadeusz Kantor, den berühmten Theaterregisseur, kennen, der sie beeinflusst. Auch Filme entstehen zusammen mit dem rumänischen Konzeptkünstler Ion Grigorescu. 1977: »Hände. Für die Augen stellen die Hände meines Körpers mein Porträt her«. 1994, in der Bundeskunsthalle in Bonn, die Ausstellung: »Europa, Europa – Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa«. Brătescu ist unter anderem mit dem Video »Cocktail Automatic« von 1993 vertreten – Realisation eines älteren Konzeptes, das die Künstlerin 1985 in dem Buch »Atelier continuu« veröffentlicht hatte. Zitat aus dem Katalog von 1994: »In einer formalen, simultanen und rhythmischen Bildfolge wird der Verlust aller Künstlerillusionen in Rumänien nach 1989 dargestellt.«


Geta Brătescu blieb immer in Rumänien. 1945 hatte sie sich an der Kunsthochschule eingeschrieben, auch an der Fakultät für Literatur und Philosophie. Ihre Eltern besaßen eine Apotheke. Das war der Grund, sie 1948 auszuschließen wegen der »ungesunden sozialen Herkunft«. Trotzdem wurde sie Mitglied der Rumänischen Künstlervereinigung (UAP). Sie unternahm viele Reisen, auch in westliche Länder, so zur Biennale in Venedig. Wichtig, sie wurde Artistic Director für das rumänische Kulturmagazin secolul 20 (später: secolul 21), bis heute arbeitet sie mit, in der Ausstellung fehlt das Magazin.


Die erste Retrospektive außerhalb Rumäniens will das breite Spektrum ihrer Arbeiten zeigen. Besonders das Zeichnen, die Linie ist Brătescu wichtig. Malen wollte sie nie. Sie verwendet Stoffreste aus alten Kleidern ihrer Mutter. Sie spricht vom »Zeichnen mit der Schere«. Der Schnitt ist der Strich. Die griechische Mythologie fasziniert sie, so Dido, die Karthago gründete, vor allem Medea. In der Serie »Die Hypostase der Medea« (1980) schafft Brătescu Gebilde aus farbigem Stoff und Zwirn, als könne man hineinsehen in Medeas Kopf, der Ungeheuer gebiert – und tötet. Stoffschichten, matt leuchtend, übereinanderliegende Erinnerungsfetzen mit eingeschriebener Geheimschrift. Sie erinnern mich an Art Brut-Arbeiten, Kunst von Unangepassten, Hospitalisierten. Vermisst habe ich ihre Lithographien zu Brechts »Mutter Courage« von 1965. Auch ihre Installation »No to Violence« (Nein zur Gewalt), zum ersten Mal 1975 in Bukarest gezeigt, fehlt in dieser Retrospektive.