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Titel1116

Zum Tode von Gerd Fuchs  (Klaus Nilius)

»Eine Bande Halbwüchsiger, die sich Werwölfe nannte und in den letzten Kriegstagen das Dorf regelrecht tyrannisierte, hatte sich, als amerikanische Truppen sich anschickten, das Dorf zu nehmen, mit einer Panzerabwehrkanone in einem Wäldchen seitwärts des Dorfs verschanzt, hatte auch einen Schuss abgegeben, war dann aber, als der amerikanische Panzer, den sie im Visier gehabt hatten, abdrehend zurückgefeuert hatte, auseinandergelaufen.«


So beginnt der Roman »Die Stunde Null« von Gerd Fuchs, 1981 im Verlag AutorenEdition, München, erschienen. Anführer der Bande war der 15-jährige Gerhard Haupt. Später, als dessen 28-jähriger soeben aus dem Krieg heimgekehrter Bruder Werner vom amerikanischen Ortskommandanten gefragt wurde: »Können Sie das mit ihrem Bruder verstehen?«, antwortete dieser: »Nein.« »Können Sie denn verstehen, was Sie selbst mit dem Faschismus zu tun haben? Nein, sagte Haupt. Schade, sagte Lieutenant Warburg, sich zurücklehnend, das sagen alle Deutschen.«


Diese Szene bebildert ein Schlüsselerlebnis des bei Kriegsende zwölf Jahre alten Schriftstellers, denn auch er erfuhr, wie er einmal sagte, in seinem Elternhaus »nicht den Hauch einer wirklichen Erklärung des Faschismus«. Und das, obwohl sein Vater, Mitbesitzer eines kleinen Schuhgeschäftes in Hermeskeil bei Trier, wo Fuchs aufwuchs, aktives Parteimitglied gewesen und nach dem Krieg mit Zuchthaus und Enteignung bestraft worden war. »Für uns setzte ein großer Autoritätsverlust nach 1945 ein. Die elterlichen Autoritäten und damit auch die gesellschaftlichen waren in Frage gestellt« (zitiert nach: »Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945«, Deutscher Taschenbuch Verlag 1993).


Gerd Fuchs ist am 13. April 83-jährig im Kreis seiner Familie in Hamburg verstorben. Dies verlautbarte sein aktueller Verlag, die Edition Nautilus – Verlag Lutz Schulenburg, in einer, wie es heißt, auf Wunsch der Hinterbliebenen mit zeitlicher Verzögerung herausgegebenen Pressemitteilung.


Fuchs wurde am 14. September 1932 in Nonnweiler geboren, der nördlichsten Gemeinde des heutigen Saarlandes, auf »halber Strecke« zwischen Trier, Saarbrücken und Kaiserslautern gelegen. In der Nähe des Ortes liegt der Ringwall von Otzenhausen, eine gewaltige, über 2000 Jahre alte keltische Festungsanlage. »Vor der Haustür« entsteht der neue Nationalpark Hunsrück-Hochwald. In dieser Region hat der unweit Nonnweilers in Morbach geborene Filmregisseur Edgar Reitz »Heimat« angesiedelt, seine fiktive Chronik der Zeit von 1919 bis 1982 mit Geschichten aus den ehemals ärmlichen, für diese Gegend typischen Dörfern mit dem ebenfalls fiktiven Dorf Schabbach im Mittelpunkt.


Wer wie Gerd Fuchs in einem Ort geboren wird, der einmal Wallfahrtsort des Hubertuskultes war und der in seinem Namen schon den Katholizismus trägt – Nonnarum villare, Weiler der Nonnen –, der muss einen weiten Weg zurücklegen, bis er sich freigemacht hat von der Welt aus Bruderschaften, Vereinen, Glockengeläut, aus Zwängen, Scheuklappen, Aberglauben und Verblendung: aus Dörfern also, wo den Menschen, »da sie nicht voneinander fliehen können«, nichts anderes bleibt, »als einander an die Kehle zu springen« (Zitat aus dem Roman »Beringer«).


Gerd Fuchs ist diesen weiten Weg gegangen. Einige wesentliche Stationen waren: Gymnasium in Trier, Studium der Germanistik und Anglistik in Köln, München und London. Erstes und Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien. Ab 1964 journalistische Tätigkeit, in Hamburg zunächst als Feuilleton-Redakteur bei der Welt; ab 1967 Kultur-Redakteur beim Spiegel, zeitgleich mit dem heutigen Ossietzky-Herausgeber Otto Köhler. Im selben Jahr Doktor der Philosophie mit einer Dissertation über »Rilke in England«. Dann freier Mitarbeiter bei konkret. Es ist eindeutig, der Weg führte nach »links«, was sich politisch später auch in der Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) niederschlug, der er bis Mitte der 80er Jahre angehörte.


Seit 1968 arbeitete Gerd Fuchs als freiberuflicher Schriftsteller und Lektor. Er war Mitgründer und zusammen mit Heinar Kipphardt, Uwe Timm, Uwe Friesel und Richard Hey ab 1975 Herausgeber der AutorenEdition. Er war Mitglied des deutschen PEN.


Und er veröffentlichte zahlreiche Romane. In diesen Romanen kehrte er, wie Reitz in seinen Filmen, immer wieder in die alte Heimat zurück, in Dörfer, die es nie gegeben hat, ebenso wenig wie die handelnden Figuren und Personen – und dennoch ist es die alte Heimat, (v)erdichtet, im doppelten Sinn.


»Stunde Null« (1981) wurde schon erwähnt, ebenso »Beringer und die lange Wut« (1973), der Roman eines 68ers auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie alles so gekommen war, wie es dann zwischen 1933 und 1945 kam. Dann, 1978, der Emanzipations-Roman »Ein Mann fürs Leben«, mit Hannelore Hoger und Manfred Krug fürs Fernsehen verfilmt. Auch der »Schinderhannes« (1986) führte zurück in den tiefen und dunklen Hunsrück-Hochwald, in die Zeit des Umbruchs nach der französischen Revolution. Noch heute ist dort in den Dörfern die Geschichte des 1803 in Mainz mit 19 Spießgesellen guillotinierten Räuberhauptmannes Johann Bückler so gegenwärtig wie die spätmittelalterliche Legende von Robin Hood und seinen Merry Men im Sherwood Forest von Nottinghamshire. »Die Amis kommen« (1984), »Noch ein Jahr und sechs Tage« (Fernsehspiel, 1985), »Katharinas Nacht« (1992) und »Schussfahrt« (1995) folgen.


2003 legt Gerd Fuchs einen Roman vor, der in seiner neuen Heimat Hamburg spielt und dessen Titel »Die Auswanderer« so tagesaktuell ist wie das vorangestellte Motto: »Niemand wandert ohne Not aus, niemand wandert ohne Hoffnung aus. Auch heute noch sind Millionen unterwegs.«


Es ist gerade erst drei Monate her, dass im Rahmen der »Schwarzen Hafen-Nächte« der Schauspieler Michael Weber in Hamburg aus dem Buch las. Mit dem Anwalt Georg Debler, dessen Arbeitsschwerpunkt das Ausländerrecht ist, wurde anschließend der Bogen in die Gegenwart geschlagen.


Hamburg war zwischen 1850 und 1932 eine der Drehscheiben Europas für die Auswanderung in die »Neue Welt«. Gerd Fuchs führt hier seine Protagonisten im Jahre 1892 zusammen, zum Beispiel einen Uhrmacher und seine Familie, die einem Pogrom in Russland entkamen; einen Hamburger Werftarbeiter-Sohn; einen Arzt aus einer Sephardenfamilie, der lieber als Schiffsarzt anheuert als eine Bankierstochter zu heiraten; eine Ordensschwester. Ihre Geschichten werden in dem Buch erzählt, bis zur Ankunft des Passagierdampfers in Ellis Island vor New York. »Ein wunderbarer Hamburg-Roman, der seit vielen Jahren zu unserem Stammsortiment gehört«, hob der engagierte »Buchladen in der Osterstraße« in seinem Nachruf auf Fuchs hervor.


Nun hat er sich also auch davongemacht, Gerd Fuchs hat die schwarze Tür geöffnet, wie Franz Josef Degenhardt es kurz vor seinem Tode 2011 formulierte, sein Kumpan und Schriftstellerkollege schon zur Zeit der AutorenEdition, in der 1975 sein Roman »Brandstellen« erschien.


Es war im Mai 1992, als Harry Rowohlt im ehemaligen F.A.Z.-Magazin 37 Fragen beantwortete. Gleich die erste lautete: »Was ist für Sie das größte Unglück?« Seine Antwort kam prompt: »Dass manche Menschen sterben. Und manche Menschen nicht.«


Finis. Zeilenende.


Nachtrag: Gerd Fuchs und ich sind uns einige wenige Male in Hamburg begegnet, bei gemeinsamen Bekannten oder aus anderem Anlass. Mich hat dieser ruhige, freundliche, kluge Mann sofort für sich eingenommen, zeichnete ihn doch aus, das er nicht auf dem Karussell jener allabendlichen Talkshow-Schwadroneure zu finden war, deren Geschwätz uns nicht satt macht. Gesprächsstoff gab es genug, denn, ich verrate es jetzt, ich komme aus derselben Gegend. Mein Geburtsdorf, winzig und, abgesehen von unserer protestantischen Familie, fast gänzlich »schwarz«, liegt, über die A 62, weniger als 30 Autominuten entfernt in Rheinland-Pfalz. Meine journalistische Tätigkeit begann 1963, und auch ich habe, wie Gerd Fuchs, den Weg über Köln nach Hamburg gefunden.

Die Bücher von Gerd Fuchs erscheinen in der Edition Nautilus. Hier gibt es auch »Die Auswanderer« als Sonderausgabe, 262 Seiten, 14,90 €, als Nachwort mit der Laudatio von Uwe Timm zur Verleihung des Italo-Svevo-Preises 2007 im Hamburger Literaturhaus.