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Titel1117

Fremde Welten  (Klaus Nilius)

»Laufe, mein Lied, eile gleich hurtigen Bächen / talwärts vom schweigenden Berg, tränke / das Land der Kasachen, fließe hinaus in die Steppe, / stille den Durst der Vögel im Gras! ... Immer mussten wir wandern und suchen, / meine kasachischen Brüder! Immer / beraubt und geknechtet – bis einer / die Karawane geführt hat auf sonnige Weiden.«

 

So wunderschön beginnt in deutscher Nachdichtung »Das Lied von Kulager« des kasachischen Dichters Ilijas Shansugirow (1894–1937), das in den 1930er Jahren erschien. Das kasachische Original wurde rasch zu einem Volksepos, für den Dichter selbst aber zum Verhängnis. Die Restriktionen und Verfolgungen der Stalinära reichten bis in die weit von Moskau entfernte Steppe. Die Bücher wurden kurz nach ihrem Erscheinen vernichtet. Und als im Dezember 1936 aus Vorgängerrepubliken die Kasachische SSR zu einer eigenständigen Unionsrepublik innerhalb der Sowjetunion geworden war, dauerte es nicht lange, bis Shansugirow verhaftet und dann noch im selben Jahr, 1937, ermordet wurde. Das Manuskript jedoch konnte versteckt werden. Der Dichter wurde 1958 rehabilitiert, und ein Freund übergab der Witwe die Blätter. Heute ist das »Lied« ein Klassiker. Hochverrat ist eben auch eine Frage des Datums, wie schon der Opportunist Talleyrand wusste.

 

Was aber hat die Mächtigen an dem Gedicht so erbost? Die Antwort ist einfach: Sie hatten es verstanden. Sie wussten, dass sie gemeint waren, sie, die Unterdrücker, die das Volk einschüchterten und Kunst und Kultur knebelten.

 

Nur vordergründig nämlich geht es um ein Pferd namens »Kulager«, für seine Schnelligkeit berühmt, und um seinen Besitzer, den fahrenden Sänger und Dichter Akan Seri. Beide haben im 19. Jahrhundert wirklich gelebt.

 

Schon in der Einleitung spricht Shansugirow über die Aufgabe des Schriftstellers in der Gesellschaft (S. 25): »Du bist die Zunge des heiteren Volkes. / Du bist der Seri, der Sänger, Herr deines Pferdes, / Sohn der versammelten Väter, jetzt stell / dich dem Wettstreit, denn du bist das Wort. / Dein Lied ist die geistige Kraft, dein Wort / macht den Tapferen Mut, du bist der / führende Denker. Sturm unserer Freude, / singe uns deine Gedichte.«

 

Der Sänger Seri preist die Schönheit des zumindest mir fremden Landes – auch wenn ich einmal von Usbekistan aus einen Blick »hinüber« werfen konnte. »Seine Metaphern und Bilder ergreifen den Leser, man sieht sich selbst als Teil der Natur. Dass in einem Land hinreißender Schönheit haarsträubendes Unrecht herrscht, muss bekämpft werden – so das Leitmotiv von ›Kulager‹«, schreibt der Literaturwissenschaftler Adilbek Alzhanov aus Almaty in seinem Vorwort. (Er hatte 1985 in Leipzig als Germanist promoviert und war mehrere Jahre Gesandter an der kasachischen Botschaft in Berlin, wo er an der Herausgabe der Kasachischen Bibliothek auf Deutsch mitwirkte.)

 

Das Unrecht, das Kulager und Seri geschieht, hat Namen und Gesicht. Vor ihrem Erscheinen auf einem Volksfest glaubt der Wortführer einer großen Sippe, ein Mächtiger namens Batyrasch, den Sieg beim folgenden Rennen schon in der Tasche zu haben. Berechtigterweise die neue Konkurrenz fürchtend, lässt er während des Rennens in einem unübersichtlichen Hohlweg kurz vor dem Ziel den führenden Kulager von einem gedungenen Henkersknecht mit einem Beil erschlagen. Sein Pferd, bisher zweiter, geht als Sieger durchs Ziel.

 

Zwar richtet sich anfangs die Wut der Menge gegen Batyrasch, aber dieser droht den verschiedenen Sippen mit der Stärke seiner eigenen Sippe, lockt mit seinem Reichtum, setzt sich durch, der Mächtige siegt (S. 124): »Der alte Batyrasch ist eine Bestie, / doch hat er fast ein Heer auf seiner Seite. / Er ist ein Scheusal von Natur aus, rücksichtslos, / vielleicht ein Altai-Bär mit Menschenmaske.«

 

Und Akan Serie trauert und weint, sein Klagelied kommt aus seiner »Seelenwunde« (S.129): »Er singt sein Trauerlied wie schwarzes Licht, / das seinem Schmerz entsteigt bis zu den Sternen. / Und jeder, der’s vernimmt, teilt Akans Weh / und hört von diesem Mord und fasst es nicht.«

 

Die erstmals in deutscher Sprache zu lesende Nachdichtung dieser traurigen, historisch belegten Geschichte ist das Werk des vielfach ausgezeichneten Schriftstellers und Sprechers Gert Heidenreich. Wie er im Nachwort schreibt, hörte er von Barbara von Münchhausen, der Leiterin des Goethe-Instituts in der ehemaligen Hauptstadt Kasachstans, Almaty, 2013 erstmals von dem Volksepos. Er ließ sich die Lebensgeschichte des Sängers und seines Pferdes und des Dichters Shansugirows erzählen. Selbst des Kasachischen nicht mächtig, erarbeiteten für ihn im Goethe-Institut in Almaty zwei Übersetzerinnen und ein Übersetzer eine erste, wortwörtliche Fassung auf Deutsch. Mit diesen Übersetzern und weiteren Mitarbeitern ging er den Text Zeile für Zeile durch, um das Großgedicht zu verstehen. Heidenreich legt aber nicht nur diese Nachdichtung vor, wir können ihn auch hören, denn der in der Edition Büchergilde erschienenen Buchausgabe ist die mp3-CD mit der ungekürzten 130-minütigen Lesung beigegeben. Ilja Trojanow, der Herausgeber der Reihe »Weltlese«, in der das Buch erschien, nannte das Gedicht »eine wort- und bildgewaltige Heraufbeschwörung einer unbekannten Welt, eine faszinierende Reise in das Fremde, ein Volksepos, das die ganze Fülle des kasachischen Lebens vor uns ausbreitet«. Und Gert Heidenreich habe »mit seinem poetischen Lasso die wilden Verse für uns« eingefangen.

 

Ilijas Shansugirow: »Das Lied von Kulager«, eine Nachdichtung von Gert Heidenreich, Edition Büchergilde, 144 Seiten, 25 €, mit Hörbuch-CD, Sprecher: Gert Heidenreich, Musik: Julian Heidenreich, Regie Antonio Pellegrin, Produktion: Bayern 2