Jedes Ding hat seine Ordnung in unserem Lande. Alle siebzig Jahre zum Beispiel steht eine Revolution ins Haus; das letzte Mal, 1989, hat sie sich allerdings um ein Jahr verspätet. Man glaubt kaum, was ein Volk alles hinnimmt, ehe es dazu kommt, sich zu erheben. Daher wohl die großen zeitlichen Abstände. Verwunderlich ist auch, wie wenig es bei jeder dieser Gelegenheiten verlangt hat: Meist war es etwas, das ihm ohnehin zustand – jene Verfassung, die die Fürsten einst in den Befreiungskriegen versprochen hatten, jene Rechte, die in der DDR-Verfassung verankert und obendrein anderswo selbstverständlich waren. Es blieb auch fast alles im Rahmen des Bürgerlichen, nur einmal, 1918/19, ist eine stärkere Minderheit in ihrem Kampf für sozialistische Ziele eingetreten oder, wie man so sagt, auf die Barrikaden gegangen.
Auch die Fahne war in solchen Kämpfen von Bedeutung und mehr noch das Gewehr. Doch wenn es heißt »Das Volk griff zu den Waffen«, dann ist das immer wortwörtlich gemeint. Zum sprichwörtlichen Revolutionssymbol hat es nur die Barrikade gebracht, zum Protestsymbol schlechthin sogar. Erstaunlicherweise: Geht man auf die Barrikaden, ist das zwar ein Aufbruch, aber ein Aufbruch zum Zwecke der Verteidigung. Forderungen kann man so nicht durchsetzen – dazu muss man angreifen. Außerdem hat der Barrikadenbau in den letzten beiden Revolutionen keine Rolle mehr gespielt: 1918 war er überflüssig, 1989 wäre er zudem sinnlos gewesen, nicht zuletzt, weil es der Revolution an Waffen fehlte, und die wiederum wollte man auch gar nicht, weil der Kampf gewaltlos bleiben sollte.
Wirklich auf oder hinter den Barrikaden gestanden hat ein größerer Teil des Volkes hier nur im März 1848. Für die staatstragenden Kreise war das etwas geradezu Ungeheuerliches, sie waren völlig überrascht – man hatte nämlich zuvor stets die Einheit von Krone und Volk beschworen (später wurde die Einheit von Volk und Partei daraus). Überrascht von seiner Kühnheit und Macht war aber wohl auch das Volk selbst, und so wird sich dieser Kampf seinem Bewusstsein tief eingeprägt haben. Noch aus einem zweiten Grund ist die Barrikade vielleicht zum Symbol geworden – der Kenntlichkeit. Erscheint sie im Bild, weiß man Bescheid: Wo sie ist, da ist die Revolution.
Das bekannteste aller Barrikadenbilder stammt von Delacroix: »Die Freiheit führt das Volk«. Sie führt, das Volk folgt, lässt sich notfalls sogar totschießen, doch wird dann der Sieg gefeiert, sitzt die Schöne beim Bourgeois auf dem Schoß. Der lässt gern die Korken springen; die Gleichheit ist auch eingeladen, kriegt mal ein Gläschen rübergereicht – sie macht wirklich nicht viel her, sieht aus wie du und ich. Die Brüderlichkeit schließlich … pardon, aber was sollen wir denn jetzt noch mit diesen 89er Flausen? Gemeint sind hier die von 1789; dass der Umsturz im Osten genau zweihundert Jahre später kam, wird einmal die schönsten Doppeljubiläen zur Folge haben. Im Übrigen hatte Delacroix ja Recht: Im Juli 1830 wurde vor allem für die Freiheit gestritten.
Das wichtigste deutsche Barrikadenbild hat Theodor Hosemann 1848 mit der Feder auf den Stein gezeichnet. Es zeigt den jungen Berliner Ernst Zinna mit dem Säbel in der Hand, man sieht ihn schräg von hinten, neben ihm nur sein verwundeter Kampfgenosse Glasewaldt, vor ihnen, auf der anderen Seite der Barrikade, das preußische Militär. Eigentlich waren Genreszenen aus der Welt des Kleinbürgers Hosemanns Sache, ein Schusterjunge, der sich mit einem Hund herumzankt, und dergleichen; es zeigt sich auch hier, welch tiefen Eindruck die 48er Revolution bei Zeitgenossen hinterlassen hat. Ich hatte das Bild im Internet gefunden, wunderte mich nur: War es nicht farbig gewesen? Sah es nicht überhaupt ganz anders aus? Dieses farbige Bild gibt es auch, wie ich bald herausfand: Der Leipziger Heinz Wagner hat es 1953 gemalt, es hing in vielen Schulen. Man sieht Zinna dort von vorn, schräg von unten, er steht da wie sein eigenes Heldendenkmal, das Militär bleibt ausgeblendet. So wird er als Vorbild hingestellt; bei Hosemann dagegen erscheint sein Kampf eher als Verzweiflungstat.
Im gleichen Jahr, 1848, ist auch Honoré Daumiers »Auf den Barrikaden« entstanden. Man kennt Daumier vor allem als satirischen Graphiker; Größtes aber hat er, wie mir scheint, erst als Maler erreicht. Er hat in seiner Art keine Vorgänger, keine Nachfolger: Großflächig, stark abstrahierend mitunter ist seine Malweise, die Farbgebung oft düster, die Gestaltung monumental; ein Grundzug seiner Arbeit ist die liebevolle Hinwendung zum einfachen Volk. Dem entstammen auch die Figuren auf seinem 48er Revolutionsbild: der Vater, fast kahlköpfig schon, tiefe Falten im Gesicht, in dessen Ausdruck ich Entschlossenheit, aber auch Besorgnis erkenne, und seine Söhne, bleich und großäugig beide, zehn der eine, vierzehn vielleicht der andere. Bewegtheit kommt ins Bild, indem er sich den Zweien vor ihm zuwendet und der eine Bruder dem anderen. Für sie ist es das erste Mal, ihr Vater wird schon 1830 dabei gewesen sein, der Vierte im Bilde, der Alte links mit dem roten Tuch über dem Kopf, ist wohl ein Veteran von 1789. Hinter ihnen freier Raum, über ihnen sturmbewegter Himmel, es muss der Gipfel sein, wo sie stehen. Weder Waffen noch Barrikaden sind zu sehen, und doch spürt man: Hier geht es ums Ganze.
Ludwig Meidner hatte, als er 1912 »Barrikade« malte, noch keine Revolution erlebt, sein Bild gehört zu jenen Weltuntergangs-Visionen, die typisch waren für den Expressionismus jener Zeit: Überall Detonationen, Feuersbrünste zerstören die Stadt, die letzten Kämpfe sind mit ihrer Kraft am Ende. Gegen Militär kam man so tatsächlich nicht mehr an; die Barrikaden im Wedding, die letzten ihrer Art, waren 1929 im Kampf gegen Polizeiterror entstanden. Was die Zerstörungen anbetrifft, nimmt Meidners Bild eher die Straßenkämpfe vom April 1945 vorweg.
Die Barrikade hat also ausgedient. Und die Revolution? 2058 oder 2059 müsste ja wieder eine fällig sein. An Volksrechten gäbe es sicherlich noch einiges zu erkämpfen, es ist nur fraglich, ob das Volk von heute daran überhaupt interessiert ist. Zudem ist es meines Wissens bisher in keiner Demokratie, die ihren Namen nur halbwegs verdient, je zu einer Revolution im klassischen Sinne gekommen.