Barbara Klemm nun auch in Rheinsberg. Über mangelnde Publizität kann sich die Fotografin nicht beklagen. Ihr wurden zahlreiche Ausstellungen eingerichtet, und ihre Arbeiten stecken in dicken Kunstbänden. Allein in dem 2004 in Berlin erschienenen Buch »Künstlerporträts« konnte sie fast zweihundert Fotos veröffentlichen. Aber die 1939 geborene, in Karlsruhe aufgewachsene und seit 1959 in Frankfurt am Main lebende Künstlerin ist vor allem in den westlichen Bundesländern bekannt, schon allein durch ihre Arbeit als Fotoredakteurin von 1970 bis 2005 für die FAZ. In ihrem umfangreichen Ausstellungsverzeichnis sind bisher nur vier markante Orte im Osten vertreten: 1997 Staatliche Galerie Moritzburg in Halle, 2006 Kunstsammlungen Zwickau, 2007 Staatliche Kunstsammlungen Dresden sowie 2008 und 2011 Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus.
Es ist anzunehmen, dass bei weitem noch nicht alles gezeigt oder gedruckt wurde, was zu Klemms bleibendem Œuvre gehört. Bei jeder neuen Ausstellung kommt es auf eine neue Auswahl an, die möglichst andere, neue Aspekte des Werkes vorstellt und dabei bisher noch nicht oder nur selten Veröffentlichtes einbezieht. Im Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum Rheinsberg wurde auf einen thematischen Ausstellungstitel zu den 84 Exponaten verzichtet. Die Retrospektive, die von 1968 bis 2017 reicht, ist in fünf Abteilungen gegliedert: Ikonen, Straßen, Augenblicke, Landschaften (Brandenburg, Rheinsberg) und Porträts.
Barbara Klemm gelangte als Mitarbeiterin einer der maßgeblichen Zeitungen der Bundesrepublik ganz dicht an die Vertreter der politischen Macht und an die Brennpunkte des politischen Geschehens heran. Wenn von »Ikonen« die Rede ist, kommt man um den »Bruderkuss« von Breschnew und Honecker zum 30. Jahrestag der DDR 1979 in Berlin-Ost nicht herum. Dieses Foto, das um die ganze Welt gegangen ist, ohne dass der Name der Fotografin unmittelbar damit verbunden wird, ist auch in Rheinsberg vertreten, ebenso von 1973 ein glücklicher Schnappschuss mit Breschnew und Willy Brandt in Bonn: keine Staatsposen, sondern Brandt ganz entspannt, fast liegend im Gespräch am Rande des Offiziellen. Der Schriftsteller Ingo Schulze, der die Rede zur Eröffnung der Rheinsberger Ausstellung hielt, verwies auf den Kunsthistoriker Matthias Flügge, der sinngemäß gesagt haben soll, dass er, wenn er unsicher im Urteil über Kunst werde, sich diese Fotografie anschaue, und »dann falle sein Blick wieder auf das kleine weiße Dreieck, das zwischen den Schößen des zugeknöpften Jacketts und dem Hosenbund von Brandt dessen weißes Hemd zeige – unvorstellbar, auf diese kleine weiße Stelle in der Komposition des Bildes zu verzichten«. Was in allen Rezensionen zu den Fotos der Barbara Klemm gerühmt wird, ist ihre Fähigkeit, Augenblicke einzufangen. Diese Arbeit ist dafür ein ausdrucksvolles Beispiel. Aus dem Bildband »Fall of the Wall« mit 55 Fotos sind zwei ausgewählt: die Mauer mit Blick auf das Brandenburger Tor vom Westteil der Stadt aus am 10. November 1989, künstlerisch interessant durch erhöhte Perspektive, zum anderen das Brandenburger Tor vom Osten aus am 22. Dezember 1989, eine Nachtaufnahme. Während es beim ersten Foto vordergründig von Menschen nur so wimmelt, hat sich die Fotografin beim zweiten auf eine schemenhafte Menschenreihe am unteren Rand beschränkt. Aus ihr ragen nur Regenschirme hervor und ein weißes Transparent. Die Fotos in der Abteilung »Ikonen«, aber vereinzelt auch bei »Straßen« und »Augenblicke« stammen aus der politischen Berichterstattung der Fotojournalistin. Helmut Kohl ist dreimal vertreten, Gorbatschows Empfang auf Schloss Augustusburg Brühl 1989 ist dabei, der Papstbesuch in Bottrop 1987, es geht um Heinrich Böll auf der Demonstration gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen 1983 und zum Beispiel um den 50. Jahrestag des Kriegsendes 1995 in Moskau.
Barbara Klemm ist durch die ganze Welt gereist, beruflich und privat. Niemals jedoch hält sie mit ihrer Kamera nur den Touristenblick fest. Ihre Bilder tragen fast immer den Charakter einer politischen Reportage, indem sie auf die nicht gern gezeigten Seiten der sozialen Zustände in einem Land hinweisen. Bezeichnend dafür ist eine 1995 im polnischen Krakau entstandene Arbeit: Zwei Frauen mit teuren weißen Stiefeln, eine im wertvollen Pelz, vor einem schäbigen Haus, neben ihnen kniet ein Bettler, den sie nicht beachten. Ingo Schulze hat beobachtet: »Jedes Bild von ihr ist wie eine eigene Erzählung, ohne erzählerisch oder gar anekdotisch zu werden. Man kann, man sollte, man muss sich in die Bilder vertiefen, sie studieren und analysieren, sie so behandeln wie ein Gemälde oder eine Zeichnung.«
In ihrem 2004 in Berlin erschienenen Buch »Künstlerporträts«, zu dem Ingo Schulze das Vorwort geschrieben hat, sind fast 200 Fotografien vereint. Von Ingo Schulze ist in Rheinsberg ein Porträt aus dem Jahr 1998 vertreten, als sich beide kennenlernten. Er schildert, wie er sich fühlte: »Das Ausbleiben von Regieanweisungen verunsicherte mich. Ich war ja gewillt, mir Mühe zu geben und meinen Teil zum Gelingen eines guten Porträts beizutragen. Zugleich fand ich es angenehm, nicht zum Darsteller meiner selbst gemacht zu werden.« Mit dem Ergebnis konnte er sich erst viel später anfreunden, denn er wunderte sich zunächst: »So kaputt, so unvollständig bist du gewesen ...« Aber dann begriff er: »Schau an, was für ein gelungener Augenblick!« Also auch bei den Porträts der Barbara Klemm gilt: keine Bilder stellen, sondern die Wahrheit einfangen. Sie fotografiert nach wie vor, die moderne Entwicklung ignorierend, schwarz-weiß, was automatisch historisch suggeriert. Für die Rheinsberger Ausstellung sind 16 Persönlichkeiten ausgewählt, die auch hier im Osten gut bekannt sind, darunter Andy Warhol (1981), Neo Rauch (2011) und Wolf Biermann (1976).
Als Neues beziehungsweise wenig Bekanntes präsentiert sich mit 33 Exponaten die größte Abteilung »Landschaften: Brandenburg Rheinsberg«, entstanden zwischen 1978 (Elbe bei Gorleben) und 2017 (Schloss Wörlitz). Es sind wunderbare Landschaftsbilder dabei, aber auch hier: Der Blick auf das Morbide, Verfallende wird nicht ausgespart, zum Beispiel beim Schloss Groß Rietz 1993 vor der Restaurierung, und die Fotografin überrascht immer wieder mit ungewöhnlichen Blickwinkeln. Einige dieser Fotografien wurden dem Buch von Günter de Bruyn, »Mein Brandenburg« (S. Fischer, 1993), beigegeben, zum Teil als Erstveröffentlichung.
Bis 5. August: Di–So, 10–17 Uhr. Gespräch mit Barbara Klemm in der Ausstellung am 9. Juni, 18 Uhr in der Reihe »Mittwochs um 6«.