Zwei Mal hebt und senkt sich die Hubbrücke um anderthalb Meter, während wir den Zander verspeisen. Von den Terrassen der umliegenden Restaurants und Cafés wird das regelmäßig wiederholte Schauspiel aufmerksam verfolgt. Beidseits vor den Schranken, die die B 103 für Minuten trennen, warten geduldig die Spaziergänger, Radfahrer und Mobilisten. Sobald die größeren Boote passiert haben, deretwegen das technische Museums-Kunststück in Betrieb genommen wird, setzt das normale Leben wieder ein. Die Menschen schlendern beidseits der Elde hinauf und hinab, vom Leuchtturm bis zur Schleuse, anderthalb Kilometer weit. Vor der Schleuse kann man über die Hühnerleiter – so nennen die Einheimischen den Übergang – die Seiten wechseln oder von oben einen Blick auf und in die Boote werfen, die auf der Müritz-Elde-Wasserstraße unterwegs sind. An sonnigen Tagen wie dem heutigen sind es viele.
Meine Frau ist zufrieden, dass wir hierher, in den Südzipfel von Mecklenburg-Vorpommern, und nicht in die nördliche Ecke Brandenburgs gefahren sind. Ich wolle doch nur wegen des Wortspiels »Himmelfahrt in Himmelpfort« dorthin ausfliegen, womit sie nicht ganz unrecht hatte. Es war eine richtige Entscheidung, wie wir beim Lübzer Bier und mit Blick auf die überwiegend heiter und entspannt Dahinflanierenden befinden. Die Altstadt, das hatten wir mit nicht geringerer Befriedigung festgestellt, ist in einem vorzeigenswerten Zustand. Kleine Fachwerkhäuser reihen sich aneinander, winden sich an kopfsteingepflasterten Straßen und Gassen hinauf zur höchsten Erhebung, auf der St. Marien thront. An vielen Gebäuden ist ein unscheinbares Bronzetäfelchen zu sehen: »Erneuert im Rahmen der Städtebauförderung durch Bund, Land und Stadt«.
Plau am See habe wohl die Wende-Kurve gut genommen, sage ich, als ich an dem nulldreier Drei-Euro-Bier nippe. Die Kellnerin mustert mich abschätzend. Na, sagt sie, vor der Wende habe es kaum weniger Touristen und Erholung Suchende gegeben als heute. Betriebsferienheime, Ferienlager, Sanatorien ... Eigentlich sei es so wie immer. Nur dass das Geld gewechselt habe. Und dass im Winter pausiert werde. Da sparten viele Restaurantbesitzer die Personalkosten und schlössen das Lokal für Wochen.
Aber staatlich anerkannter Luftkurort sei man doch erst 1998 geworden, wirft meine Frau ein. Ja, schon, sagt die Kellnerin. Da gab es auch keine Betriebe mehr. 1991 schloss die Treuhand die Pelztierfarm Appelburg. Der volkseigene Betrieb war einst Europas größte Zuchtanlage für Nerze. Mit eigener Schlachterei, eigenem Wasserwerk und – man staune noch mehr – mit vollbiologischer Kläranlage. Mit einem Kulturhaus, der Gaststätte »Appelburg«, einem Kindergarten und einer Kinderkrippe. Und in einem Lehrlingswohnheim wurde der Nachwuchs untergebracht: Die Pelztierfarm war auch die zentrale Ausbildungsstätte für Pelztierzüchter in der DDR – nach vier Jahren Lehre gab es den Facharbeiterbrief. Von den zuletzt dort Beschäftigten, und das waren einige Hundert, besaßen mehr als zwei Drittel diese Qualifikation und verdienten ordentliches Geld. Was Wunder: Alle Pelze gingen in den Westen, zuletzt etwa eine Viertelmillion im Jahr. Aus verschiedenen Gründen kam der Nerz aus der Mode. Vom Betrieb selbst gibt es nur noch ein Modell und einige Erinnerungsstücke im Burgmuseum, das neu auf dem Gelände der alten Burganlage errichtet wurde. Von dieser existieren lediglich der trutzige Burgturm und Reste der Wallmauer.
Einer der ehrenamtlichen Hüter vieler musealer Kostbarkeiten ist der 83-jährige Bernhard Häntschel. Der ehemalige Qualitätskontrolleur aus dem VEB Märkische Ölwerke Wittenberge ist ein freundlicher, kundiger Plauderer. Auch sein Betrieb war 1991 dichtgemacht und einige Hundert Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen worden. Man begann, das seit dem frühen 19. Jahrhundert produzierende Werk abzureißen, bis schließlich die Reste unter Denkmalschutz gestellt wurden. Heute betreibt dort ein Familienunternehmen ein Hotel, eine Brauerei und andere Event-Locations. Häntschel sagt »Tempi passati« und dass er ein bekennender DDR-Bürger sei. Sein heutiges Reich ist übersichtlich geordnet, unberührt von museumspädagogischen Zeigefingern und angenehm frei vom Zeitgeist. Die DDR ist so präsent wie das Kaiserreich, gleichberechtigt gewissermaßen. Alles deutsche Geschichte. Es stehen alte und uralte Druckmaschinen herum, die ihnen ein hiesiger ehemaliger Druckereibesitzer überließ. Auch eine Boston-Tiegelpresse, auf der uns Häntschel einen Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg abzieht. An anderer Stelle stehen Draisinen und Fahrräder im Dutzend aus allen Jahrzehnten herum. Etwas weiter gibt es »Uhren aus Plauer Stuben« und unweit davon Devotionalien vom »Bahnhof Plau/Meckl.« zu sehen.
Häntschels Lieblingsstücke aber sind die »Rupfbilder« von Manfred Lüpke im Erdgeschoss. Der gelernte Polsterer vom Jahrgang 1940, einst Mitarbeiter des Museums, pflegt ein ungewöhnliches Hobby: Der Freizeit-Ornithologe rupft verendete Vögel, ordnet die Flügel- und Schwanzfedern auf Pappe und bringt die erstaunlichsten Muster hinter Glas. Das macht er seit mehr als einem Vierteljahrhundert und hat auf diese Weise über 150 Vogelarten aus der Region dokumentiert. Dem Müritzeum in Waren überließ er das Gros seiner Sammlung von über 600 Rupfungen, der hiesigen kleineren Einrichtung etwas weniger. Und beide schmücken sich nun damit, dass es dergleichen Bilder nirgendwo sonst auf der Welt gebe. Die Rupfbilder haben nicht nur etwas Indianisches und durchaus ihren optischen Reiz, wie ich gern einräume, sondern auch einen wissenschaftlichen Wert. Lüpke sieht mit einem Blick, ob ein Greifvogel das Tier geschlagen hat oder ob es anders zu Tode kam. Er kann aus einer einzelnen Feder schließen, welcher Vogel sie trug. Häntschel sagt, er habe mal eine besonders schöne Feder gefunden und sie Lüpke zur Bestimmung gezeigt. Der habe ihn entrüstet, fast beleidigt angeschaut: Mensch, Bernhard, die ist von einer normalen Wildente!
Immerhin, auf diese Weise wies Lübke die Existenz von Trachttauchern, Großtrappen, Sumpfohreulen, Wespenbussarden, Wald- und Zwergschnepfen sowie Ohrenlerchen im vormaligen Kreis Lübz nach. Das teuerste Tier steht übrigens präpariert in einer Vitrine. Der Seeadler starb an einer Bleivergiftung. Mitglieder vom Naturschutzbund e. V. brachten den Kadaver und erhielten dafür eine Spende von 500 DM. So hilft man sich denn gegenseitig.
In einer Ecke im Obergeschoss findet man Gipsabgüsse von Plastiken, Bilder, Dokumente und Skulpturen von Wilhelm Wandschneider. Der Bildhauer wurde 1866 in Plau geboren, er starb hier 1942 als Ehrenbürger. Seine hohe Zeit hatte der Bildhauer vor dem Ersten Weltkrieg, 1914 erhielt er beispielsweise den Preis der Kunstfreunde Preußens für das beste Kunstwerk des Jahres – eine in Boston aufgestellte Plastik mit dem hintersinnigen Titel »Die nackte Wahrheit«: eine sitzende Frau, die mit blankem Busen an Carl Schurz, Emil Preetorius und Carl Daenzer erinnert, deutsche Revolutionäre von 1848, die außer Landes getrieben worden waren. Wandschneider schuf auch das fünf Meter hohe Standbild von Barclay de Tolly, dem Kriegsminister und Oberbefehlshaber der russischen Armeen, welche Napoleons Truppen vertrieben. Der Mann, der als Erfinder der Kriegstaktik der verbrannten Erde gilt, kämpfte 1813 bei Bautzen und in der Völkerschlacht bei Leipzig. Sein Denkmal ging verloren, es versank 1915 mit dem Schiff, als es aus Riga evakuiert werden sollte. Das Burgmuseum zeigt die Originalurkunde aus der lettischen Hauptstadt, mit der Wandschneider am 20. September 1913 die »Medaille zum Andenken an den Vaterländischen Krieg 1812« verliehen bekam, und in dem Begleitschreiben lud man den deutschen Bildhauer zur Enthüllung seines Denkmals im nachfolgenden Monat ein.
An Wandschneider erinnert auch das Bildhauermuseum gegenüber der Kirche St. Marien. Der Mann war und ist nicht unumstritten, vornehmlich deshalb, weil er sich bereits 1930 der NSDAP anschloss. Seine naturalistischen, idealisierten Körperdarstellungen korrespondierten mit der Nazi-Ideologie und sicherten ihm die Existenz. Hauptauftraggeber in den 20er und 30er Jahren waren Militär- und Kriegervereine. Und Hitler persönlich kaufte 1940 seine noch vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Aphrodite, die in der Neuen Reichskanzlei Platz fand. Einen Zweitguss stiftete Hitler der Stadt Linz.
Und Wandschneider fühlte sich durchaus geschmeichelt, dass ihn 1935 die Nazis rühmten, er habe das erste Hakenkreuzdenkmal in Deutschland geschaffen. Gemeint war sein 1920 in Malchow enthülltes Kriegerdenkmal. Mit Bezug auf die römische Plastik »Sterbender Krieger« zeigte er einen stürzenden nackten Soldaten, auf dessen zerbrochenem Rundschild das Hakenkreuz zu sehen war. Die DDR ließ 1955 das unmittelbar nach dem Ende des Nazi-Reiches demontierte Denkmal verschrotten, worüber es einen interessanten Schriftwechsel zwischen dem Bürgermeister von Malchow und dem Institut für Denkmalpflege gibt. Im öffentlichen Stadtraum in Plau sind heute der Sämann und der Mähmann zu sehen, der »Pfennigjunge« und »Coriolan«, und in Stavenhagen steht Wandschneiders Fritz-Reuter-Denkmal. Jenseits seiner ideologischen Verirrung gibt es ein Urteil, das der Bildhauer und Landsmann Ludwig Manzel – nicht weniger belastet als Schöpfer einer Goebbels-Plastik – bereits 1911 über ihn fällte: »Wandschneider ist ohne Zweifel ein geschickter und talentierter Künstler, der zu den Besseren gehört [...] Aber zu einem wirklich bedeutenden Künstler fehlt ihm doch sozusagen das Beste.«
Am Markt erhebt sich aus rotem Backstein, von wildem Wein umrankt, das Rathaus. Ein wenig stilbrüchig wirkt das dreigeschossige Neorenaissancegebäude in der mittelalterlichen Umgebung und mit seiner Größe. »Nutze die Zeit« steht unter der Uhr am Fuße des Türmchens, das sich in den blauen Himmel reckt. Das Haus brannte im Januar 1985 aus, sechs Monate vor dem 750-jährigen Stadtjubiläum. Man hatte aus diesem Grunde auch das Rathaus ein wenig aufhübschen wollen, dabei entwickelte sich unterm Dach ein Schwelbrand. Die Feuerwehr konnte wenig tun: Die Hydranten waren bei der vorherrschenden Kälte eingefroren. So brannte das Haus bis auf die Außenmauern nieder. Die Bürger spendeten, der Bezirk Schwerin spendierte eine Million. Wenige Tage vor Beginn des Jubiläums konnte die Stadtverwaltung wieder in das Rathaus einziehen. Angesichts heutiger Bauzeiten scheint das mehr als bemerkenswert.
Im Rathaus amtiert seit siebzehn Jahren Norbert Reier. Seit 1255 sind seine Vorgänger lückenlos dokumentiert. Der diplomierte Agraringenieur mache einen guten Job als Bürgermeister, sagen alle, die ich nach dem Mann frage, er werde bis zum Ende der sieben Jahre währenden Wahlperiode 2022 ganz gewiss im Amte bleiben. Und das, obwohl er bei den Linken ist und seine Partei nur drei Sitze im Stadtparlament und damit die kleinste Fraktion stellt. Reier, damals noch PDS, wurde 2001 Bürgermeister mit Hilfe der CDU. Das Beispiel machte keine Schule. Zeigte aber, wie in ostdeutschen Kommunen gedacht und gewählt wird. Alles ist möglich. Und manchmal sogar vernünftig. Wenn man sich die Stadt heute anschaut.