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Titel1118

Gescheiterter Aufbruch  (Manfred Weißbecker)

Nach den großen Vermarktungswellen zum Thema »vor 100 Jahren« – über den Beginn des Ersten Weltkrieges und die russische Oktoberrevolution – begann jetzt die zum Jahrestag der Novemberrevolution in Deutschland, einer Revolution, die im offiziellen Betrieb der Geschichtswissenschaft eher beschwiegen worden ist oder argen Missdeutungen unterliegt. Das scheint sich jetzt zu ändern.

 

Die Zeit verknüpfte zu Beginn des neuen Jahres, geschichtspolitisch wohl orientierend gemeint, ein drei Seiten umfassendes »Abschiedspanorama« über das Verhalten von Kaiser, Königen und Fürsten mit dem Lob für das Bemühen der damaligen Mehrheitssozialdemokraten, Deutschland möglichst gewaltlos (sic!) von einer De-facto-Diktatur der preußischen Generale in einen parlamentarisch regierten Staat umzuwandeln. Historiker, Publizisten und Literaten stehen schon seit geraumer Zeit in der Startlöchern: Da bot der Berliner Geschichtsprofessor Daniel Schönpflug einen eher romanhaft und kaleidoskopartig gestalteten Blick auf das Ganze eines »Kometenjahres«, auf eine sich im Aufbruch befindliche Welt. Da gab es das interessante durch Karl Heinz Siber ins Deutsche übersetzte Buch von Mark Jones »Am Anfang war die Gewalt«, das irreführend betitelt erscheint, weil es die gegenrevolutionäre Gewalt als den »wirklichen Gründungspfeiler« der Weimarer Republik behandelt. Da beschrieb der SWR-Redakteur Wolfgang Niess die Revolution hauptsächlich als eine gelungene, der SZ-Redakteur Joachim Käppner sie indessen als eine unvollendete und zwiespältige. Ersterer spricht vom »wahren Beginn unserer Demokratie«, letzterer von einer »Revolution der Besonnenen«. Vielfach steht – erstaunlich – Bayern im Fokus: Von »Träumern« und einer Machtübernahme durch die Dichter handelt das Buch von Volker Weidermann, und Ralf Höllers »Das Wintermärchen« lässt Schriftsteller über die Münchner Räterepublik berichten. Zum Wirken von Berliner Literaten, beispielsweise denen im »Rat der geistigen Arbeiter« um Kurt Hiller, erschien kaum neuere Lektüre, man kann jedoch durchaus auf den Beitrag »Intellektuelle in der Revolution« zurückgreifen, den Wolfgang Beutin vor zehn Jahren lieferte für den von Ulla Plener herausgegebenen Band »Die Novemberrevolution 1918/1919 in Deutschland. Für bürgerliche und sozialistische Demokratie«.

 

Zumeist lautet das Fazit neuerer Darstellungen: Die heutige Demokratie fuße auf den Ergebnissen der Revolution von 1918/19. Lobpreisung ist angesagt. Das könnte optimistisch stimmen, doch man achte auf die Betonung: Sie liegt auf »gegenwärtig«, also auf einer Form der Demokratie, die allzu gern autoritäre Züge annimmt, sich zunehmend nach rechts orientiert und insofern durchaus jener damaligen entspricht, die – neben mancherlei realem Fortschritt – vor allem den grundlegenden Ausnahme-Artikel 48 Ausnahme-Artikel 48 kannte, die eine Präsidialdiktatur erlaubte, die den deutschen Linken kaum Raum zu erfolgreichem Handeln ließ, dafür aber den Rechtesten unter den Rechten ungezählte Freiheiten für eine brutale Abschaffung aller Revolutionsergebnisse bot.

 

Anderes kann beim Soziologen Simon Schaupp gelesen werden. Sein Buch »Der kurze Frühling der bayerischen Räterepublik – ein Tagebuch der bayerischen Revolution« erfasst biografisch drei Akteure (Erich Mühsam, Hilde Krämer, Ernst Toller) und rückt das massenhafte Engagement der bayerischen Bevölkerung für revolutionäre Veränderungen ins Zentrum. Anderes auch in Klaus Gietingers neuestem Buch – ebenso erfreulich wie für diesen Autor selbstverständlich. Es handelt von den verpassten und ungenutzten, vor allem aber von den verhinderten Chancen der Novemberrevolution. Es kann als bittere Anklage gegen die von der SPD-Führung gedeckte, teils auch gewünschte exzessive Gewalt der nicht entmachteten Militärs sowie zugleich als ein lebhaftes Plädoyer für Rätebewegung und Basisdemokratie gelesen werden. Und es folgt dem Urteil Sebastian Haffners, der von einer sozialdemokratischen Revolution sprach, die von sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde, und dies als einen Vorgang kennzeichnete, der »in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen« habe.

 

Gestützt auf Forschungsergebnisse jüngerer Historiker sowie frühere Darstellungen prüfend, bietet Gietinger einen detailreichen, akribisch erarbeiteten und kritischen Blick auf das vielgestaltige, teils auch verwirrende Geschehen in der Revolutionszeit. Der Leser fühlt sich unmittelbar hineingezogen in die Zeit. Drei Teile stehen zeitlich gegliedert im Mittelpunkt des Buches, poetisch verknüpft mit zwei jahreszeitlichen Begriffen: »Revolution – Frühling im November?«, »Die zweite Revolution – Frühling im Frühling?« und »Das braune Band des Herbstes – Konterrevolution März 1919 - Mai 1919«. Zwei Fragezeichen also und ein nicht gedrucktes, aber vernehmbares Ausrufezeichen. Umrahmt sehen sich diese Kapitel von einem Blick auf den Spaltungsprozess der Arbeiterbewegung während des Ersten Weltkrieges und von einem Fazit. Stets spielen dabei der (an jeweilige Zeiten und diverse Interessen gebundene) Forschungsstand und seine geschichtspolitische Deutung eine erhellende Rolle.

 

Alles ist informativ, aufschlussreich, bemerkenswert. Lang würde eine Aufzählung des vom Autor Geleisteten geraten. Hier sei nur beispielhaft auf jene Abschnitte verwiesen, deren Aussagen konträr zu üblichen Verdrehungen stehen oder zu geringe Beachtung erfuhren. Das betrifft die vehemente Absage an den falschen, aber dennoch oft benutzten Begriff »Spartakusaufstand« oder die klare Darstellung der Ziele, mit denen die Berliner Arbeiterräte im März 1919 den Generalstreik begannen. Zu deren Forderung nach einer schleunigen Sozialisierung des Wirtschafts- und Staatslebens heißt es: »Das umzusetzen hätte wirklich Frühling bedeutet. Hier wurde eine neue, eine bis dahin nie dagewesene und auch bis heute nicht verwirklichte Demokratie in allen Bereichen der Gesellschaft gefordert.« Beabsichtigt sei weder eine Auflösung der Nationalversammlung noch ein Regierungssturz, wohl aber eine »Vergesellschaftung von unten, durch die Räte« gewesen. (S. 153)

 

Ausführlich wird dargestellt, was dem gescheiterten Generalstreik folgte: barbarische Massaker, die von einer enthemmten Soldateska auf der Grundlage unrechtmäßiger Befehle des sozialdemokratischen Ministers Gustav Noske und verlogener Pressekampagnen begangen worden sind. Ihnen bescheinigt Gietinger eine frühfaschistische Qualität. Rund 2000 Menschen wurden brutal gemartert, schamlos hingerichtet, willkürlich ermordet. Die Schießbefehle, die im April 1919 auch gegen die basisdemokratischen Versuche der bayerischen Räterepublik ergingen und ähnlich wie in Berlin gehandhabt worden sind, begründete Reichspräsident Ebert mit dem Argument, je rascher und durchgreifender gehandelt werde, desto weniger Widerstand und Blutvergießen würde es geben. Der Autor verweist mit Recht auf eine Kontinuitätslinie der Machtbesessenheit, hatte doch Hindenburg schon früher erklärt, der »grausamste Krieg« sei der kürzeste, und Goebbels 1944 im Berliner Sportpalast verkündet: »Totaler Krieg ist kürzester Krieg.« Es erschreckt den Verfasser und sicher auch Leser dieses Buches, dass selbst heute Historiker sich nicht scheuen, dies als eine »Strategie der kontrollierten militärischen Abschreckung« zu preisen. (S. 173 f.)

 

Eine Randbemerkung sei erlaubt. Revolution und Gegenrevolution lassen sich jeweils nur verstehen, wenn sie in ihrer Komplexität und gleichsam als Zwillinge betrachtet werden. Zweifellos spielte das bereits in der Nacht vom 9. zum 10. November 1918 geschlossene Bündnis zwischen Ebert und Groener eine entscheidende Rolle. Letztlich verhinderte das Militär, gedeckt vom sozialdemokratischen Führungspersonal, einen Sieg der revolutionären Arbeitermassen, die sowohl eine neue Form von Demokratie erstrebten als auch Kapitalismus und Militarismus abschaffen wollten. Von diesem unrühmlichen Kapitel handelt hauptsächlich das vorliegende Buch. Vielleicht wäre es (zumindest aus der Sicht eines Historikers, der sich seit langem mit der Parteien- und Verbändegeschichte befasst) sinnvoll gewesen, auch auf andere Facetten der Gegenrevolution einzugehen, zum Beispiel auf die parteipolitische und medienpolitische Organisiertheit der Bourgeoisie. Bereits vor sowie unmittelbar nach dem 9. November 1918 verbreiteten bürgerliche Parteipolitiker und ihre »Vordenker« in den Medien die Forderung nach einer Nationalversammlung, abgeleitet auch aus ihrer völlig überzeichneten, irrealen und mythisierten Bolschewismusfurcht. Im November formierten sich die konservativen und liberalen Parteien sowie die katholische Zentrumspartei in neuer Demagogie als »Volksparteien«. Gerade wenn die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und sozialen Schichten einerseits sowie zwischen den Parteien und geistigen Strömungen andererseits analysiert werden, geht es auch um den notwendigen Blick auf die politisch und ideologisch geprägte Situation, auf Denk- und Verhaltensweisen derjenigen, die dem verhängnisvollen Handeln wenig entgegensetzten.

 

Schließlich: Der lesenswerte Band enthält noch einen Paukenschlag, dem viel, sogar sehr viel Öffentlichkeit zu wünschen ist. Ihn lieferte der Verfasser des Vorworts Karl Heinz Roth. Bereits zehn Jahre zuvor hatte er gefordert, die Historische Kommission der SPD möge ein Handbuch mit den Kurzbiografien jener 4500 bis 5000 Menschen erarbeiten, die unter der Mitverantwortung der SPD dem Weißen Terror der Jahre 1918 bis 1920 zum Opfer gefallen sind. Doch damit nicht genug. Offensichtlich in Erinnerung an die nach der Wende geforderten Vergebungsbitten wird gekontert: »... wenn sie dazu noch die Adressen der Nachkommen von Opfern jener Jahre ermittelt, dann wäre es dem Parteivorsitzenden möglich, sie – bei gleichzeitiger Überreichung eines Widmungsexemplars – um Entschuldigung zu bitten.« (S. 14) Sicher, dies wäre gewiss ein Zeichen von »Erneuerung«, von der heutzutage so viel die Rede ist. Zu erwarten ist es leider nicht – wie damals, als man zwar lautstark »Sozialisierung« propagierte, aber gleichzeitig gegen sie die Waffen des Militärs sprechen ließ.

 

 

Klaus Gietinger: »November 1918. Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts«. Mit einem Vorwort von Karl Heinz Roth. Edition Nautilus, 270 Seiten, 18 €. Manfred Weißbecker ist Historiker und hat unter anderem zahlreiche Studien im Bereich der Faschismusforschung, zum Widerstand sowie zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung veröffentlicht. Zuletzt erschienen: Manfred Weißbecker: »Weimarer Republik«, PapyRossa Verlag, 138 Seiten, 9,90 €; Kurt Pätzold: »Gefolgschaft hinterm Hakenkreuz. Zwanzig Kapitel zu zwölf Jahren deutscher Geschichte«, bearbeitet von Manfred Weißbecker, verlag am park, 360 Seiten, 19,99 €