»Die Erde nahm Fahrt auf. Die Menschheit hatte ihre Reise begonnen. Als die Erde ihre Fahrt begann, verließ uns Großvater … Auf der Schwelle zum Tod wiederholte er immer wieder denselben Satz: ›Ach, meine Erde, meine arme, wandernde Erde …‹«
Cixin Liu heißt der Verfasser der Erzählung »Die wandernde Erde«, aus der diese Zeilen stammen, in der Übersetzung von Johannes Fiederling. Liu ist Chinese, hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte, und dies in einem literarischen Genre, das in Ossietzky selten Gegenstand der Betrachtung ist: Er schreibt Science-Fiction, und zwar verdammt phantasievoll und gut.
Seine Kurzgeschichte über das bevorstehende Ende unseres Sonnensystems wurde bald nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 2000 mit dem Galaxy Award ausgezeichnet, dem höchsten Preis in der Volksrepublik China für SF. Im vergangenen Jahr wurde sie von dem Regisseur Frant Gwo verfilmt, der die ursprüngliche Geschichte, wie es in Filmen häufig der Fall ist, allerdings eher als Ideengeber, als Matrix nutzte. Kinostart war in China der 5. Februar 2019, der Tag des chinesischen Neujahrsfestes. Der Film wurde rasch zum bisher erfolgreichsten chinesischen Blockbuster und soll, umgerechnet, fast 700 Millionen US-Dollar eingespielt haben. Die weltweiten Streaming-Rechte sicherte sich – und das ist neu – das US-amerikanische Unternehmen Netflix, das den Film seit dem 30. April zum Abruf bereitstellt. Mir hat der Film einen Riesenspaß bereitet, selbst wenn hier und da legendäre Vorläufer wie »2001: Odyssee im Weltraum« von Stanley Kubrick oder »The Day After Tomorrow« von Roland Emmerich hervorlugten.
Der Plot: Die Sonne hat ihre Wasserstoffreserven weitgehend verbraucht, die Erde ist öd und leer, die Menschen leben in unterirdischen Städten, vieles ist rationiert, und Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt es nicht. Da schmieden Wissenschaftler einen verwegen-waghalsigen Rettungsplan: Mit Hilfe riesiger Triebwerke an den Kontinentalplatten wollen sie die Erde aus der Umlaufbahn drücken, sie sozusagen zu einem planetaren Raumschiff umfunktionieren und auf den Weg in die Tiefen des Alls hin zu einer neuen Galaxie treiben, wo die Menschheit eine neue Heimat finden kann.
Wer nun mit den Schultern zuckt, na und, halt wieder so ein Zukunftskram sagt, übersieht eines: Es sind die Chinesen, die diesmal die Welt retten. In diesem Sinne sind Erzählung und Film auch deutliche Zeichen für ein neues chinesisches Selbstverständnis und für den kulturellen Wandel in dem Riesenreich. Und: Chinesische SF war bisher außerhalb des Landes so gut wie unbekannt.
Kai Marchal, der an der National Chengchi University in Taipeh, Taiwan, Philosophie lehrt, schrieb dazu in der Zeit online (10. Mai 2019): »Chinesische Science-Fiction erlebt erst seit einigen Jahren eine Renaissance, was sicher auch eine Folge von Chinas neu gefundener, geopolitischer Handlungsfähigkeit ist. Der erfolgreichste Autor … Liu ist zweifellos ein Großmeister seines Genres. Mit schneidender Kälte entwirft er seine Storywelten, sucht sie stets wissenschaftlich zu fundieren und zielt doch auf spekulative Überhöhung ab. Dabei ist sein Werk von einem tiefen, sozialdarwinistisch anmutenden Pessimismus durchtränkt: Zivilisationen müssen sich unaufhörlich technologisch fortentwickeln, sonst werden sie von höherstehenden ausgelöscht; und menschliche Tugenden wie Mitleid oder Nachsicht kommen schnell teuer zu stehen. Einige seiner frühen Geschichten lassen sich dagegen im Sinne einer ethischen Kritik an der kapitalistischen Lebensform lesen, als Plädoyer für den Schutz des Ökosystems.«
Das neue chinesische Selbstbewusstsein und Selbstverständnis lassen sich am deutlichsten aus der berühmten »Trisolaris«-Trilogie Cixin Lius ablesen. Ausgangspunkt des dreibändigen, insgesamt 2397 Seiten umfassenden Romans ist das Jahr 1967, als in China Maos Kulturrevolution tobt, durch die eine junge Astrophysikerin ihre Familie verliert. Sie wird in eine geheime Militärbasis gebracht, wo sie mit Hilfe riesiger Radiowellenantennen nach intelligenten Wesen im All sucht. Als sie diese eines Tages entdeckt, lädt sie diese Trisolarier zum Besuch der Erde ein: Die Verfolgung während der Kulturevolution hat tiefe Narben hinterlassen, und Rache kann ja so süß sein, selbst wenn die Rächer von fernher kommen und ganz eigene Absichten mit Erde und Menschheit haben. Wer will, kann den Roman auch als Parabel auf Eroberung und Kolonialismus lesen.
»Die wandernde Erde« und die drei »Trisolaris«-Bände sind ebenso wie andere Werke von Cixin Liu als Taschenbücher im Heyne-Verlag erschienen.