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Titel1119

Mit Hans M. bei Hans W. in Zürich  (Frank Schumann)

In Zürich sind die Erinnerungstafeln jünger als die Häuser, an denen sie hängen. Eine in der Spiegelgasse vielleicht ausgenommen. Im Haus daneben, in der Nr. 12, starb 1837 Georg Büchner. Und in der Nr. 11 lebte Lavater, der 1775 von Goethe in diesem Domizil besucht worden war. Alles sehr alte Immobilien. Bei der Nr. 14 liest man zwischen den Fensterreihen der zweiten und dritten Etage in Versalien: »Hier wohnte v. 21. Febr. 1916 bis 2. April 1917 Lenin, der Führer der russischen Revolution.« Das Haus ist, ohne dass man es erkennt, ein Neubau aus den 1970er Jahren.

 

Die Stadt hatte zuvor das historische Objekt erworben und unter Denkmalschutz gestellt, dann aber entsetzt bemerkt, dass es nicht zu retten war. Über die Bleibe hatte die Krupskaja seinerzeit geschrieben: »Zwar war unser Haus hell, aber seine Fenster gingen auf den Hof hinaus, in dem es fürchterlich roch, weil sich dort eine Wurstfabrik befand. Nur spät nachts konnten wir die Fenster öffnen.« Das erklärt manches ...

 

Die Sozialdemokratische Partei hatte nach den Wahlen 1928 mit fünf Sitzen im Stadtrat die Mehrheit und auch den Stadtpräsidenten gestellt – drei Monate später hing diese Tafel in der Spiegelgasse 14. Daraufhin klagte der Eigentümer, weil nach seiner Überzeugung das Haus dadurch eine Wertminderung erfahren würde. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) schrieb damals, dass der Stadtrat Verhandlungen »über eine angemessene Entschädigung für die Belassung der Tafel eingeleitet« habe. Was daraus wurde, ist nicht bekannt. Nur eben, dass sie noch immer hängt. Aber an einem neuen Haus.

 

Von hier gelangt man in wenigen Minuten zum Zähringerplatz, wo sich wuchtig neben einer Kirche die Zentralbibliothek erhebt. Dort hatte Lenin in jenem Jahr alles studiert, was ihm in die Finger kam: von Reiseführern über Untersuchungen zur Fleischversorgung des Deutschen Reiches bis hin zu Abhandlungen zu Themen wie »Höhenklima und Bergwanderungen in ihrer Wirkung auf den Menschen«. In den 1940er Jahren sei ein Ausleihschein von ihm verschwunden, der dann aber aus einem Antiquariat zurückgekauft wurde und nun in einem Tresor des Stadtarchivs liegen soll.

 

Das spricht für eine beachtliche Zuneigung, obwohl Lenin selbst von den hiesigen Sozialdemokraten nicht viel hielt. »Der Magistrat von Zürich besteht aus neun Mitgliedern, von ihnen sind vier Sozialdemokraten«, schrieb er 1917. Es handele sich um »friedliche Spießer, Opportunisten, die sich an den parlamentarischen Kleinkram gewöhnt haben und mit konstitutionell-demokratischen Illusionen belastet sind«.

 

Aber eben jene friedlichen Spießer stifteten ihm zehn Jahre später diese Tafel in der Spiegelgasse.

 

Zürich ist offenkundig ein ziemlich tolerantes Pflaster. Das bekam auch unlängst Hans Modrow zu spüren. Die Universität, konkret das dortige Europa-Institut, hatte den Ex-Ministerpräsidenten eingeladen, damit er etwas über die Ereignisse in der DDR 1989 berichtete und über die Folgen, die sich aus der Herstellung der staatlichen Einheit in Deutschland ergaben. Man wolle sich ein eigenes Bild machen, hieß es, weshalb beispielsweise auch schon Gregor Gysi und Egon Krenz hier waren.

 

Der Institutsdirektor informierte beim Begrüßungsempfang – hier Apéro geheißen –, dass die Universität mit rund 25.000 Studierenden und fast 10.000 Mitarbeitern nicht nur die größte der Schweiz, sondern wohl europaweit auch die einzige sei, die nicht von Potentaten und Kirchenfürsten, sondern per Volksentscheid gegründet worden war. 1832 habe ein solches Quorum den Regierungsrat des Kantons zur Konstituierung einer Alma Mater veranlasst. Und Modrow konnte hinzufügen, dass bislang keine der über dreihundert Universitäten und Hochschulen in Deutschland den Mut besessen habe, den letzten SED-Ministerpräsidenten zu einem Vortrag einzuladen. Also gleich zwei Alleinstellungsmerkmale.

 

Die viereckige grüne Kupferkuppel überm Hauptgebäude thront gleichsam über der Stadt und ist von nahezu allen Plätzen zu sehen. Einstein war hier Dozent, und Churchill hielt nach dem Krieg eine Rede, die Außenminister Armeniens und der Türkei unterzeichneten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Dem feierlichen Akt 2009 wohnten die Außenminister Russlands und der USA, Lawrow und Clinton, bei. In diesen Mauern wurde also nicht nur Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Aber auch. Die Uni brachte zwölf Nobelpreisträger hervor, das heißt, diese hatten entweder in Zürich studiert oder gelehrt.

 

Das zu wissen war nicht erheblich, wohl aber illustriert es den Kontext, in welchem der 91-jährige Modrow sprach. Der Hörsaal mit mehr als zweihundert Sitzplätzen langte nicht, um alle neugierigen Zuhörer aufzunehmen, es musste ein zweiter Saal geöffnet werden, in welchen dann Modrows freie Rede übertragen wurde. Auch dieser Raum war gut gefüllt. Mehr Zuhörer, als seinerzeit zu Gysi gekommen seien, konstatierte der Institutsdirektor beglückt, ohne damit vorsätzlich die Eitelkeit des Referenten bedienen zu wollen.

 

Das Publikum: ein paritätische Mischung aus Alten und Jungen, aufmerksam und interessiert, seine Fragen so höflich wie die Reaktionen auf Antworten, die nicht – wie sagt man? – auf den Punkt kamen. Es waren nicht nur Fans erschienen, die anschließend ein Autogramm erbaten. Aber tolerant waren sie alle. Wir befanden uns schließlich in der Schweiz.

 

Danach gab es bei einem exzellenten Italiener ein mehrgängiges Essen, an dem ein Dutzend geladene Akademiker, Wirtschaftsleute und Politiker teilnahmen. Der Direktor des Europa-Instituts, ein freundlicher, witziger Professor mit raspelkurzen Haaren und modischer Brille, brachte uns noch bis zum Hotel. Wir kamen plaudernd an eben jener Bibliothek vorbei, und er berichtete, dass er in jungen Jahren eine Person getroffen habe, die mit Lenin angeblich im Lesesaal gesessen hatte. Lenin sei von diesem als Workaholic, aber auch als ein ziemlich finster dreinblickender, übellauniger Mensch beschrieben worden. Jeden Tag sei er pünktlich zur Öffnung des Hauses erschienen und habe bis zur letzten Minute lesend und schreibend auf seinem Stuhl gesessen. Mag sein, dass es so war, vielleicht aber verhält es sich wie mit vielen anderen Überlieferungen: Im Laufe der Jahre werden sie immer länger, detaillierter und auch skurriler.

 

Modrow und mir blieb noch ein wenig Zeit zwischen einem Gespräch mit Politikern und einem Interview mit dem SRF-Hörfunk. Ein Nationalrat, wie hier die Abgeordneten des eidgenössischen Parlaments heißen, und dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter hatten um das Treffen gebeten. Die beiden jungen Sozialdemokraten zeigten sich als sehr gut informierte Menschen, die die politischen Verhältnisse in Deutschland aufmerksam und kritisch verfolgten – im Übrigen auch in der Tageszeitung junge Welt –, und richteten entsprechende Fragen an Modrow, um Hintergründe und Zusammenhänge zu erfahren.

 

Nun zogen wir durch die verwinkelten Straßen und Gässchen der Altstadt, es ging hinab und hinauf und der Atem bisweilen kurz. Wir schauten in der Spiegelgasse vorbei und landeten schließlich im Fraumünster unten an der Limmat. Im Chorraum aus dem 13. Jahrhundert verweilten wir geraume Zeit und bestaunten die farbigen Glasfenster von Marc Chagall aus dem 20. Jahrhundert, schmal und hoch aufragend, ein Feuerwerk für die Sinne und Vexierbilder zugleich. Mehr für den Unkundigen als für den Bibelkenner. Dafür müsse man sich nicht entschuldigen, meinte ich auf Modrows Einwand. Dann, im Seitenschiff, noch Giacomettis »Himmlisches Paradies« betrachtet, ein Glasgemälde von 27 Quadratmetern – eingesetzt im September 1945. Eine Komposition von dichten, kraftvoll leuchtenden Farben mit Gottvater und Jesus, Propheten und Evangelisten und betenden Engeln auf den Knien.

 

Hinaus ins Freie und über die Limmat, vorbei am Reiterstandbild von Hans Waldmann, ausgangs des 15. Jahrhunderts Bürgermeister der Schweizer Reichsstadt Zürich im Heiligen Römischen Reich und als Despot nach einem Schnellverfahren am 6. April 1489 enthauptet. Seine Grabplatte ist im Fraumünster, sein Ruf bis heute umstritten. Die einen sprechen von Justizmord, die anderen von Gerechtigkeit. 1937 wurde diese Plastik errichtet – gegossen aus der Bronze italienischer U-Boote. Und auf dem Sockel steht »Feldherr und Staatsmann«. Hans M. amüsiert sich sichtlich über Hans W. und meint: »Wir Hänse ziehen durch die Welt und haben selten Glück ...«

 

Im Großmünster mit den beiden Türmen jenseits des Flusses mustern wir ein weiteres Kirchenfenster von Giacometti, und als ich Modrow vorschlage, nun auch noch ins Volkshaus zu eilen, schaut er nur auf die Uhr. Nee, nicht mehr heute. Dabei lohnte der Besuch des ersten alkoholfreien Volkshauses der Schweiz am Helvetiaplatz noch aus einem anderen Grunde. Dort hatte Lenin am 9. Januar 1917 auf einer Veranstaltung der sozialistischen Arbeiterjugend eine Rede gehalten, woran seit 1970 eine Tafel erinnert. Mitten im Krieg referierte er über die 1905er-Revolution. Und sollte sich dabei gewaltig täuschen: »Europa ist schwanger mit der Revolution«, sagte er dort vor zumeist studentischem Publikum. »Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben.«

 

Aber vielleicht irrte nicht Lenin, sondern wir gehen fehl. Die Phase, die vor dreißig Jahren endete, war eventuell nur eine Vorstufe. Der eigentliche Umbruch steht erst noch ins Haus.