Kurz notiert
Die erste Hürde, die das Neue nehmen muss, ist die Erfahrung.
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Er plante mit jedem Buch die Ausrottung des unbeschriebenen Papiers.
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Wer sich mit der Wahrheit verteidigt, wird immer zum Ankläger.
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Das Gedächtnis ist eine Schrift der Zukunft.
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Seine Gedanken waren billig, aber sie kamen andere immer teuer zu stehen.
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Wer sein Gesicht wahren will, tauscht es am besten gegen eine Maske.
Norbert Büttner
Vom Gefängnis ins Parlament
Normalerweise ist die konstituierende Sitzung eines neugewählten Parlaments eine Routineveranstaltung, nur die 13. am 21. Mai war es nicht. Von den 350 Abgeordneten des spanischen Parlaments wurden die Volksvertreter Oriol Junqueras, Jordi Sànchez, Josep Rull und Jordi Turull sowie der Senator Raül Romeva vom Gefängnis Soto del Real mit vier zivilen Fahrzeugen zum Parlament in die Carrera San Jerónimo gefahren. Bilder davon zeigte nur der regionale Fernsehsender Televisió de Catalunya, obwohl auch der landesweite Sender TVE1 live berichtete.
Für die Teilnahme der fünf hatte der Oberste Gerichtshof strenge Auflagen festgelegt, ist es doch das erste Mal in Europa, das gewählte Gefangene an ener Parlamentssitzung teilnehmen. Die Inhaftierten hatten aus dem Gefängnis mit Videokonferenzen ihren beschwerlichen Wahlkampf geführt.
Sànchez, Rull, Turull und Romeva sind Mitglieder von Junts per Catalunya (JxCat), Senator Junqguera Mitglied der linksrepublikanischen Partei Esquerra Republicana de Catalunya (ERC). Bereits vor Beginn des Gerichtsprozesses am 12. Februar hatten JxCat und ERC keine gemeinsame politische Basis mehr, sind Konkurrenten auf dem Weg zu einem von Spanien unabhängigen Katalonien.
Die Wahl des Senatspräsidenten Manuel Cruz – katalanischer Sozialist der PSOE – erfolgte bereits im ersten Wahlgang. Anders verlief die Wahl der Parlamentspräsidentin Meritxell Batet – katalanische Sozialistin der PSOE. Sie erreichte erst im zweiten Wahlgang die erforderliche Mehrheit.
Wohlwollend wurde mit den vier Abgeordneten aus dem Gefängnis im Parlament umgegangen. Für die Abgeordneten der Partido Popular (PP) allerdings ist die Tatsache, dass vier inhaftierte Abgeordnete den Status von Parlamentariern haben, »inakzeptabel und beleidigend«. PP-Präsident Pablo Casado forderte: »Wir müssen mehr denn je unsere Verfassung, Demokratie und Freiheiten verteidigen.« Anders die VOX-Partei. Sie wollte mit einem Staatsstreich ins Parlament einbrechen, so das Wahlkampfversprechen, doch das passierte nicht.
Dafür setzte sich der Parteivorsitzende Santiago Abascal als »Publicity-Gag« sofort hinter der Regierungsbank auf den Sitz, den traditionell der Sprecher der PSOE einnimmt.
Nach Ende der Sitzung von Parlament und Senat wurden die fünf Gefangenen zurück ins Gefängnis gefahren. Meritxell Batet setzte die Abgeordnetenmandate der vier Katalanen aus und begründete den Schritt damit, dass sie wegen mutmaßlicher Rebellion und weiterer Vorwürfe in Untersuchungshaft säßen. Das Vorgehen steht im Einklang mit dem spanischen Recht. Unklar ist, ob die Sitze frei bleiben oder andere Katalanen nachrücken.
Karl-H. Walloch
Pessimistische Vision
Ach, wie war es ehedem
mit Frau Merkel doch so schön.
Denk’ ich dran, was uns bald blüht,
schlägt mir das schon aufs Gemüt.
Wenn erst mal ganz ungeniert
Friedrich Merz das Land regiert
und aus Lust und mit Bedacht
redet, wie die AfD das macht,
unterstützt von Annegret,
die ihm plötzlich nahesteht,
weil sie gern auch rechts rum tanzt
und sich dabei schnell verfranzt.
Ja, wenn das erst mal passiert,
rufen viele ganz gerührt:
Wär’ doch unsere Angela
noch ein Weilchen für uns da.
Manches war zwar nicht so schön,
ließ sich aber trotzdem sehn.
Darum Leute, hergehört:
Setzt nicht auf das falsche Pferd.
C. T.
Plastikwahn
Matthias Biskupek schrieb im Ossietzky 10/2019 treffend über Wahlplakate. Er erwähnte bunte Pappplakate. Davon gibt es allerdings nur noch wenige. Obwohl alle wissen können, dass »Plastik« unter anderem die Meere vermüllt und in die Nahrungskette eindringt, werden diese Dinger von den zahlungskräftigen Parteien nun aus »Plastik« gefertigt und trotzen so den klimawandlerischen Wettern. Je höher gehängt, desto »unkaputtbarer«.
Gerhard Hoffmann
Appell an die Vernunft
Bekommen wir in Deutschland in schon sieben Jahren den Sozialismus? Wenn man dem auch in Ossietzky veröffentlichenden Autor Günter Buhlke glauben darf, dann besteht diese Möglichkeit durchaus. In seinem vor einiger Zeit erschienenen Buch »November 2032« schildert er – offensichtlich angeregt von dem Roman »Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887« des utopischen Sozialisten Edward Bellamy – einen fiktiven Machtwechsel im Deutschland des Jahres 2025 aus der Sicht des Jahres 2032. Ein Machtwechsel, ganz simpel basierend auf dem Wahlsieg eines Bündnisses linksgerichteter Parteien. Wie sieht dieser Sozialismus des Jahres 2032 aus? Durchweg positiv. Das Großkapital wurde vom Parlament entmachtet, und die Arbeit konnte dadurch wieder einen angemessenen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Die Parteien erfüllen endlich wieder den Willen der Wähler. Die Einkommensverhältnisse wurden angeglichen, die Renten erhöht und die Menschenrechte hochgehalten.
Wie Buhlke ganz offen schreibt, handelt es sich bei seinem Buch um eine Utopie. In seine Schilderungen, was im Kapitalismus unserer Gegenwart alles nicht funktioniert und was man dann ab dem von ihm prognostizierten Machtwechsel des Jahres 2025 besser machen könne, streut er einen kurzen Abschnitt über die Geschichte der Sozialutopie ein. Es ist durchaus anerkennenswert, dass sich nach den Umbrüchen des Jahres 1989 wieder jemand getraut, eine auf sozialistischen Prinzipien basierende Gesellschaft positiv zu schildern.
Man kann selbstverständlich an dem Buch vieles kritisieren. Die ökonomischen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft wurden von dem Autor beispielsweise grob vereinfacht dargestellt. Auch ist aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen kaum anzunehmen, dass sich eine schwerreiche Oberschicht, wie vom Autor geschildert, einfach so die Verfügungsgewalt über ihre Vermögen aus den Händen nehmen lässt. Und außerdem scheint die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung in eine ganz andere Richtung zu gehen: Wir erleben derzeit einen Vormarsch der radikalen Rechten.
Günter Buhlkes Buch ist, wie jede linke Utopie, ein ganz simpler Appell an die menschliche Vernunft. Dass allein ein solcher Appell in einer dem Grunde nach unvernünftigen Gesellschaft kaum etwas bewirkt, ist bekannt. Utopien können aber die scheinbar unverrückbaren Grundlagen dieser Unvernunft in Frage stellen und zum kritischen Denken anregen. Nicht mehr. Und nicht weniger.
Gerd Bedszent
Günter Buhlke: »November 2032«, novum Verlag, 216 Seiten, 15,90 €
Rundum schöne Aussichten?
Unser Schiff hieß »Wittstock«. Das Minen-Such- und -Räumschiff (MSR) fuhr unter der Flagge der Volksmarine, ich war Steuermann der »Wittstock« und gelegentlich Teil einer Delegation, die die Patenstadt besuchte. Wir fuhren gern in die Kreisstadt im Norden des Bezirkes Potsdam. Auch wegen der vielen hübschen Mädchen im Obertrikotagenbetrieb »Ernst Lück« (OTB), von denen wir stets freundlich willkommen geheißen wurden. (Ein Bild dieser vielen selbstbewussten jungen Frauen kann man sich in Volker Koepps Dokumentarfilmen »Mädchen in Wittstock« machen, die er damals über den Zeitraum von zwanzig Jahren zu drehen begann.) Der volkseigene Betrieb mit Kinderkrippe und -garten, Lehrlingswohnheim, Betriebsambulanz, Schwimmhalle und Sportplätzen et cetera beschäftigte in seiner besten Zeit fast dreitausend Menschen, dabei lebten in Wittstock keine fünfzehntausend. Mit einem betriebseigenen Fuhrbetrieb wurden die im Umkreis von hundert Kilometern lebenden Werktätigen zur Schicht geholt und wieder nach Hause gefahren. Der OTB war der größte und gewiss auch modernste Betrieb im Kreis und dennoch der mit der längsten Tradition: Tuchmacher gab es in Wittstock seit 1325.
Vom VEB gibt es nur noch die Geschichte. Die Treuhand verscherbelte ihn 1990 an einen »Investor«, der machte zwei Jahre später dicht. So erging es auch dem Möbelkombinat, das in der ehemaligen Wegner’schen Tuchfabrik produzierte. Auch dort hatte sich der Investor, gleichfalls ein windiger Wessi, vom Acker gemacht hat, nachdem die Fördermittel aufgezehrt waren.
Die sechsgeschossige Ruine steht unübersehbar jenseits der Dosse. Während der Landesgartenschau hat man auf dem Werksgelände einen temporären Parkplatz eingerichtet. Und auf einer Tafel erklärt: »Das zuletzt in der DDR als Möbelfabrik genutzte Gebäude steht seit über zwei Jahrzehnten leer. Als markantes Wahrzeichen der einstigen Tuchmacherstadt ist es ein Denkmal des Landes Brandenburg. Bis zum Jahr 2025 soll es renoviert und zu einem Bildungszentrum ausgebaut werden.«
Von April bis Oktober diesen Jahres lädt die Landesgartenschau unter der Zeile »Rundum schöne Aussichten« ein, und die Aussicht wird von eben jenem traurigen Anblick getrübt. Die Plastik mit Riesenlibellen davor – sie muten wie Heuschrecken an – welche Symbolik. Am Ende verstehen sie es, möchte man mit Hacks ausrufen ...
Trotzdem: Ein Besuch der Brandenburger Landesgartenschau lohnt. Zwischen der zweieinhalb Kilometer langen Stadtmauer und den Bächen Dosse und Glinze legten die Planer in bewusster Erinnerung an die Vergangenheit ein farbiges Tuch aus blühenden Blumen und Sträuchern. Dazwischen oder darauf lässt sich angenehm flanieren und im Amtshof, am Fuße des imposanten Turms der alten Bischofsburg, Unterhaltung von der Bühne oder Bratwurst vom Grill genießen. Auch dieses Areal einschließlich Bürgermeisterhaus und Bischofsgarten wurde für einen siebenstelligen Betrag eigens für die Landesgartenschau hergerichtet. Die Schau pflanzt sich fort bis zu St. Marien in der Altstadt, jener Bischofskirche aus Backstein, welche im 13. Jahrhundert zu bauen begonnen wurde und schon immer viel zu groß für die kleine Stadt war. Vor dem herrlichen Schnitzaltar blühten im Mai Dutzende Apfelbäume in Kübeln, und Anwohner hatten Blumenkörbe gespendet, ihre Namen offenbarten die Schilder, die zwischen den Blüten sprossen: Ruth und Käthe, Familie Metz und Ute Zellmer ...
Ich war, wie erwähnt, damals gern in Wittstock. Und ich gebe freimütig zu: Die Stadt ist gegenwärtig gewiss ansehenswerter als damals. Aber was gaben wir dafür hin? Oder wie es heute immer heißt: Stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis wirklich?
Frank Schumann
So nicht!
Františkovy Lázně (Franzensbad) ist immer eine Reise wert. Meine Frau und ich fahren schon seit über 15 Jahren gern dorthin. Anfangs waren es nur Aufenthalte über ein verlängertes Wochenende, inzwischen haben wir auch die Annehmlichkeiten einer einwöchigen Kurzkur mit Anwendungen für uns entdeckt. Zu den Anwendungen, die der Kurarzt individuell verordnen kann, gehört auch eine Kohlendioxid-Therapie. Dazu muss man in eine Art Plastesack steigen, der dann im Brustbereich von einer Schwester mit einem Koffergurt befestigt wird. Im Anschluss daran wird mittels eines Schlauches der Plastesack mit Kohlendioxid soweit aufgebläht, dass man den Eindruck hat, er würde bald platzen. Nunmehr muss das Gasgemisch etwa 15 Minuten einwirken, bis man von dem Sack wieder befreit wird. Auch wenn ich unmittelbar nichts spüre, soll die Sache hilfreich sein.
Bei unserem letzten Aufenthalt hatte ich allerdings ein merkwürdiges Erlebnis. Ich saß bereits mit zwei anderen Patienten auf einem Stuhl und war bereit, dass die Behandlung beginnen konnte. Ein Stuhl war noch frei. Jetzt kam ein tschechischer Bürger mit etwas Verspätung nach, öffnete die Tür zum Behandlungsraum, legte ein Grinsen auf und sagte mit bestem tschechischen Akzent »Oh, Holocaust!« Offensichtlich fand er das witzig und wartete auf eine Reaktion von uns dort Sitzenden, die allerdings ausblieb. Ich sah mich mit einem älteren Herrn aus dem Berliner Raum an, und wir waren fassungslos. Ich hatte zwei Tage vorher schon einmal mit ihm an gleicher Stelle gesessen, und wir waren ins Gespräch gekommen. Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir auch, dass er einer jüdischen Familie entstammt und als Kind nur mit großem Glück der Deportation nach Auschwitz entkommen war. Zahlreiche seiner Familienmitglieder waren allerdings von den Nazis umgebracht worden. Inzwischen hatte der Tscheche auf dem leeren Stuhl Platz genommen, war in den Sack gestiegen und die Schwester kümmerte sich um ihn. Nachdem sie fertig war, versuchten wir ihn auf seine völlig deplatzierte Bemerkung anzusprechen, was allerdings an der Sprachbarriere scheiterte. Daraufhin beschlossen wir beide – als wäre es Gedankenübertragung – dieser Behandlung in Gegenwart des von uns Angesprochenen nicht weiter beizuwohnen. Nahezu gleichzeitig stiegen wir aus unserem Sack und verließen wortlos den Raum. Draußen konnte ich ihm nur mein Mitgefühl und mein Unverständnis für die ebenso flapsige wie völlig unangemessene Bemerkung ausdrücken. Auch wenn unser tschechischer Mitpatient nichts von der Geschichte der Familie meines Bekannten wissen konnte, waren wir uns einig darüber, dass die Sensibilität mancher Zeitgenossen – völlig unabhängig von ihrer Herkunft – sehr zu wünschen übrig lässt. Auch im deutschen Sprachgebrauch erlebte ich in jüngerer Zeit Bemerkungen, die aufhorchen lassen. Sätze wie »das glänzt wie ein Judenei« sind Gott sei Dank selten. Antisemitismus beginnt im Kleinen. Wehret den Anfängen!
Ralph Dobrawa
Deutsche Familiengeschichte
Es ist ein kleines unauffälliges Buch. Der Verfasser berichtet von den Gepflogenheiten und der Geschichte seiner Familie – kein ausschmückendes Erzählen, keine ausschweifenden Repliken über das Vorgefundene. Oft kam die Großmutter auf das ihr wichtigste und schönste Erlebnis zu sprechen: die heimliche Verlobung als siebzehnjährige Schülerin mit einem Wehrmachtssoldaten mitten im Krieg. Das ist der romantische Teil der Geschichte. Es gibt auch einen anderen, über den nicht gesprochen wird. Auf dem Hof lebte auch »Onkel Fels«, ein jüdischer Viehhändler, der eines Tages nicht mehr da war. Allein dem drängenden Interesse des Ich-Erzählers ist es zu danken, dass Fels' Schicksal der Vergessenheit entzogen wird. Im April 1938 war er in der Heil- und Pflegeanstalt in O. gestorben. »Man weiß ja, was damals passiert ist«, hatte die Großmutter nur gesagt. Doch wusste sie es wirklich, hat es sie interessiert? Der Autor recherchiert ...
Anhand einer scheinbar banalen Geschichte einer normalen Familie entdeckt und entblößt der Autor den dunklen Teil. »Dokumentarischer Roman«, ja »Sachbuch« nannten manche Rezensenten das Buch. Die Authentizität der Fakten ist es, diese Familiengeschichte zu einem Dokument der Schuld macht.
Christel Berger
Kolja Mensing: »Fels«, Verbrecher Verlag, 176 Seiten, 16 €
Walter Kaufmanns Lektüre
Zweifellos wird man der jungen Angie Thomas, die an der Belhaven University in Jackson, Mississippi ihren Bachelor-Abschluss im Fach Kreatives Schreiben gemacht hatte, ein gerüttelt Maß an Richtlinien mit auf den Weg gegeben haben: Fabel, Aufbau, Gliederung …, kurzum Hinweise zu allem, was einen Roman handfest und gut lesbar macht. Talent aber ist nicht lehrbar. Angie Thomas hat Seele, hat Gespür, hat Sinn für Atmosphärisches, ist stets am Puls des Geschehens, und hinhören kann sie, dass es eine Lust ist – so sprechen die Afroamerikaner der Ghettos und so, wenn es sie in die Welt der Weißen verschlägt. Und ihr Familiensinn, dieses Einander-Brauchen, Füreinander-da-Sein – Angie Thomas stellt einen Zusammenhalt dar, wie sie ihn von Kindheit an erfahren haben wird. Der ist quer durch den Roman spürbar. In »The Hate U Give« wirkt jede Begebenheit authentisch. Und sollte es im Leben der Angie Thomas nie einen Jugendfreund gegeben haben, der von einem Streifenpolizisten erschossen worden ist, ihre Schilderung, wie eine solche Gewalttat abläuft, lässt glauben, dass die tatsächlich vor ihren Augen passierte: die Panik der Frau angesichts des blinkenden Blaulichts (Starrs Panik im Buch); der Trotz des jungen Schwarzen am Steuer; diese aus der Angst geborene Schießwut des weißen Polizisten – Mord im Dunkel der Nacht auf einer öden Vorstadtstraße von Jackson, Mississippi. Stelle den an den Anfang des Romans, und dann steigere die Spannung bis hin zu den Protestkrawallen. So wird man es ihr geraten, so wird sie es sich selbst geraten haben, und folglich ist ein Roman entstanden, der packender nicht sein kann, nicht aktueller bei all den Polizistenmorden in den USA, ein Buch über junge Schwarze aus dem Ghetto von Jackson, das von einem Drogenboss und seiner Gang tyrannisiert wird, und über junge Weiße aus wohlhabender Gegend, die in Villen wohnen und in teuren Autos zum Unterricht gefahren werden. Ein Buch rundum über junge Leute, dabei durchaus nicht nur für eine derartige Leserschaft. Es gibt kurze Romane, die lang, und lange Romane, die kurz sind – die fünfhundert Seiten von »The Hate U Give« lesen sich wie im Fluge.
W. K.
Angie Thomas: »The Hate U Give«, aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner, cbt-Verlag, 509 Seiten, 9,99 €
Sozialgeschichte Polens
»Sachverhalte, Leute, Geschehnisse« nannte Dariusz Jarosz seinen Sammelband »zur Sozialgeschichte des Stalinismus in Polen« in den Jahren 1948–1956. Diese polnischsprachige Publikation des Professors am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften vertieft und erweitert seine bisherigen sozialgeschichtlichen Forschungen zum Thema. Im Unterschied zur Mehrzahl der Autoren des Instituts für Nationale Erinnerungen (IPN), die sich auf die politische Geschichte konzentrieren, untersucht D. J. ausgewählte Probleme der Sozialgeschichte Polens. Im Stalinismus in Polen sieht er einen Modernisierungsprozess eigener Art.
Seine Analyse beruht auf bisher nicht genutzten Quellen in Betriebs- und Behördenarchiven sowie von der historischen Forschung unbeachteten Spezialuntersuchungen, zum Beispiel zu den ungewöhnlichen Klimaverhältnissen in den ersten Nachkriegsjahren. Vor dem Hintergrund der Umweltveränderungen untersucht D. J. vor allem die Industrialisierung Polens und die daraus resultierenden grundlegenden Veränderungen der Sozialstruktur des Landes. In der ersten Hälfte der 50er Jahre (1951–1955) übersiedelten in einem Massenprozess knapp 1,8 Millionen vornehmlich junger Polen vom Land in die Städte. Sie bezogen (je nach Erwerb neuer Berufe) eigene und neuerbaute Wohnungen oder kamen teilweise für längere Zeit auch in neu eingerichteten sogenannten Arbeiterhotels unter. In den Städten erwarben sie im Laufe der Jahre nicht nur für sie neue Berufe in der Industrie, sondern sie veränderten auch die Struktur der Stadtbevölkerung, partiell sogar deren Umgangssprache. Darin sieht der Autor eine bäuerliche Inbesitznahme der Städte. Die massenhaften Migrationsbewegungen gingen einher mit weiteren Veränderungen, so stieg das mittlere Lebensalter der polnischen Bevölkerung deutlich, unter anderem auch deshalb, weil sich deren Ernährung verbesserte. Deutlich wuchs beispielsweise der Fleischverbrauch der Bevölkerung, Urlaub und Erholung wurden zu Selbstverständlichkeiten für die Bürger Polens, die Bildung der Land- wie der Stadtbevölkerung nahm zu. Die Zahl der öffentlichen Bibliotheken verdoppelte sich bis 1989 auf 5110 Bibliotheken im Vergleich zum Zeitraum 1949–56.
Gerd Kaiser
Dariusz Jarosz: »Rszeczy, ludzie, zjawiska. Studia z historii spolecznej stalinizmy w Polsce«, (Sachverhalte, Leute, Geschehnisse. Studien zur Sozialgeschichte des Stalinismus in Polen 1948–1956), Instytut Historii PAN, 296 Seiten ISBN: 978-83-65880-02-4, 35 Zloty
Bauhaus Jubiläum
Beeindruckend ist der Ideenreichtum zum Bauhaus-Jubiläum in diesem Jahr. Die vielseitigen Leistungen der Bauhäusler*innen werden gegenwärtig. Da sind nicht nur die Großereignisse in Weimar, Dessau und Berlin, sondern auch die Tanztage in Potsdam mit dem »Triadischen Ballett« von Oskar Schlemmer oder die Angebote in Kooperation des Vereins baudenkmal bundesschule bernau e.V. mit der Hermann-Henselmann-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In Bernau bei Berlin befindet sich das Bauhaus-Denkmal Bundesschule Bernau. Wir erlebten dort eine Führung mit der engagierten Anja Guttenberger, die fundiert und kenntnisreich zum Konzept von Bauhaus-Direktor Hanns Meyer, seinem Partner Hans Wittwer und deren Kollektiv sprach. Sie entwickelten im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes einen »einzigartigen Schul- und Internatskomplex« (Flyer des Vereins), der in den Jahren 1928 bis 1930 realisiert wurde. Es war eine Freude, die Begeisterung zu erleben, mit der die architektonische, künstlerische und soziale Leistung von Meyer und Wittwer dargestellt und an der baulichen Substanz bis ins Detail nachgewiesen wurde. Im Foyer, der Aula oder im Speisesaal, im Glasgang, der die einzelnen Bauten miteinander verbindet und durch seine bis zum Erdboden reichenden Fenster lichtdurchfluteter Kommunikationsraum ist, atmen die Besucher noch heute Moderne. Ebenso in den Internatshäusern mit ihren modern eingerichteten hellen Zweibettzimmern, die für damalige Verhältnisse großen Komfort boten, in Sporthalle, Bibliothek, Seminarräumen und bei den Lehrerhäusern. Eingebettet ist dieses Ensemble mit dem großzügig angelegten Freibad in hüglige, mit Kiefern bestandene märkische Landschaft. Die wechselvolle Geschichte des Ortes bietet einen bedeutsamen Kontext. Sorgfältige Sanierung und Rekonstruktion der baulichen Substanz, Wiederherstellung ursprünglicher Formen und Farben zeugen von dem Willen, die Einmaligkeit dieses Bauhauskomplexes zu erhalten, zu pflegen und zu nutzen. Für den heutigen Besucher ist erstaunlich, welche weitsichtigen Entscheidungen die Gewerkschaft 1927 zu treffen bereit war. Und es stimmt nachdenklich, dass der DGB darauf verzichtete, das Erbe dieses Beispiels der Synthese von politischem und sozialem Wollen nach 1990 anzutreten. Heute nutzt die Handwerkskammer Berlin die Bundesschule als Internat für ihr Bildungs- und Innovationszentrum.
Gerhard Hoffmann
www.bauhaus-denkmal-bernau.de
Geschichte aus Dingsda
Mein Freund aus Dingsda sagte: »Die Moderatoren eurer Schlagersendungen strotzen ja vor Intelligenz. Wir finden bei uns, das passt nicht. Wir haben deshalb ein spezielles Prüfverfahren eingeführt.« »Und wie geht das?«, erkundigte ich mich. »Nun, wir stellen zielgerichtete Fragen. Beispielsweise: Wie lange dauerte der Dreißigjährige Krieg? Oder: Was ist kostbarer, Gold, Silber oder Eisen?« »Und damit findet Ihr geeignete Moderatoren?« »Aber sicher. Denn wer die Fragen richtig beantwortet, scheidet aus.«
Günter Krone
Zuschrift an die Lokalpresse
Schon seit langem beklagen sich Bürger in den Medien darüber, dass die Justizbehörden zu viel Zeit zur Bearbeitung von Vorgängen benötigen. Das wurde immer wieder auf die dünne Personaldecke zurückgeführt. Seit einer Mitteilung im Berliner Kurier vom 17. Mai weiß ich allerdings, dass es noch einen anderen Grund dafür gibt. Wie in den »Nachrichten« auf Seite 8 offengelegt wird, liegt es auch daran, dass »viele Mitarbeiter bisher in Sperrmüll hausen«. Es verringert selbstverständlich die Schaffenslust, wenn hochqualifizierte Spezialisten der Justizorgane ein gerüttelt Maß ihrer Arbeitszeit dafür verwenden müssen, auseinandergefallene Möbel wieder zusammenzuleimen oder Brauchbares aus Omas Hinterlassenschaft mit ins Büro zu schleppen. Deshalb begrüße ich die vom Senator verkündete Anschaffung von über 2600 höhenverstellbaren Schreibtischen und Bürostühlen. So ist zumindest gesichert, dass die Sitzmöbel so aufgerüstet werden, dass die Bearbeiter den gestapelten Akten nachrücken können und die Übersicht behalten. – Daisy Schlauberger (29), Bürofachfrau, 89611 Rechtenstein
Wolfgang Helfritsch