Der Rheinsberger Schlosskater Sheldon, informell auch Sheldon Schlosskatzi genannt, hat ein hohes Berufsethos. Corona-Pandemie hin oder her, der Job muss schließlich erledigt werden. Unter Lebensgefahr – es sollen sich auch schon Kater mit Covid-19 infiziert haben – ist er tagtäglich in seinem Reich, dem Schlosspark, unterwegs. Es ist kein einfacher Spaziergang, kein harmloser Zeitvertreib, bei weitem nicht, denn Sheldon hat eine Mission: Ordnung, Sauberkeit und Spaß aufrechtzuerhalten, schließlich sind Schloss und Park die Visitenkarte der brandenburgischen Kleinstadt. Vor ein paar Jahren tauchte der mittlerweile acht Jahre alte Kater plötzlich dort auf, was nahelag, denn er wohnt praktisch nebenan bei dem Arzt Markus K. und seiner Familie beziehungsweise sie dürfen bei ihm wohnen. Doch der Mix aus Norwegischer und Amerikanischer Waldkatze ist durch seine Gene ein Abenteurer und mag es gar nicht, nur ans Haus gefesselt zu sein. Sofort wurde der Kater magisch von dem großen grünen und duftenden Gartenreich angezogen. Der Schlosspark ist sein Revier, Besuch in Menschenform liebt der eingefleischte Junggeselle über alles, tierische Nebenbuhler duldet er jedoch nicht, da ist er eigen. Und die Schlossgärtner haben in ihm einen zweiten »Chef«, der sie bei ihren Arbeiten stets gut im Auge behält. Aktuell sind von Mitarbeitern der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg umfangreiche Umgestaltungen des Gartenreichs vorgenommen worden. Nach einem uralten Plan aus dem Jahr 1800 haben sie zwei Heckenquartiere an der Hauptallee zu Obstquartieren umgestaltet und dafür mit alten Obstsorten bepflanzt, deren reichhaltige Früchte wohl schon Prinz Heinrich von Preußen schätzte. Der Prinz, der sich gern aus eigenem Anbau selbst versorgte, lebte seit 1753 in Rheinsberg, weil ihm sein Bruder, König Friedrich II., das Schloss 1744 geschenkt hatte. Im Park angepflanzt wurden in diesem Frühjahr über 1000 Blühsträucher, Gehölze, Rosen und natürlich Heinrichs Lieblings-Obstbäume. Der an sich schon wunderschöne Park dürfte somit noch eine zusätzliche Aufwertung erfahren haben.
Unweigerlich trifft fast jeder Besucher einmal den Schlosskater auf seinen Wegen durch das verwunschene Gartenreich. Mal sitzt er auf einer Bank am Wasser und schaut versonnen auf »sein« Schloss, das wie aus der Zeit gefallen scheint und sich postkartentauglich im See spiegelt. Im Sommer zieht es ihn abends auch schon mal zu den Freiluft-Schlosskonzerten der Musikakademie oder zum internationalen Opernfestival Kammeroper Schloss Rheinsberg, das für dieses Jahr bereits abgesagt worden ist. Er schaut aber auch gern mal beim Kurt-Tucholsky-Museum vorbei, dessen Namensgeber 1924 in der Vossischen Zeitung eine Königsberger Katze in breitestem ostpreußischem Dialekt sprechen ließ, oder er trabt zielstrebig in die Touristeninformation unweit des Schlosseingangs. Sheldons Wege sind weit. Sonn- und Feiertage kennt er nicht, unermüdlich ist er als tierischer Botschafter der Stadt unterwegs, was ihm schließlich sogar einen Eintrag unter »Persönlichkeiten« auf der Website der Stadt (www.rheinsberg.de) einbrachte und auch einem der Stadtschreiber der letzten Jahre auffiel. Jeden Sommer dürfen Literaten ein paar Wochen in Rheinsberg von einem Stipendium leben, um so ungestört ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. 2018 machte der Stadtschreiber Arne Seidel alias Ahne Bekanntschaft mit dem rührigen Kater. Ahne war vielleicht etwas zu verwegen und brachte seinen eigenen Kater mit, ein Fehler, wie sich herausstellte. Sheldon war not amused, es kam zu Pfotegreiflichkeiten. Sheldon bestand vehement auf seinem Schlossrecht, und der lästige Rivale musste den Rückzug antreten. Geschadet hat dieser kurzzeitige Ausfall Sheldons Image jedoch nicht.
Unter all den anderen Berühmtheiten, die in Rheinsberg lebten, ist er zwar die große Ausnahme – er ist nun mal ein Kater und kein Mensch –, der exzentrische, aber auch authentische Kater hat dennoch eine gewisse Funktion als eine Art »Tourismusbotschafter«. Als ungewöhnliches »Kulturgut« und Seele des Parks besitzt er hohen Wiedererkennungswert. Die Herzen fliegen ihm schnell zu, so wie auf Facebook, wo er eine eigene Seite hat und sich bereits eine beachtliche Fangemeinde von fast 6500 Menschen um ihn geschart hat. Besucher dürfen dort gern Fotos von ihm posten. Manchmal macht der Schlosskater auf seinen Streifzügen auch etwas weitere Abstecher in das Stadtinnere, so wie im Sommer des vergangenen Jahres, als die Welt noch in Ordnung war. Kneipen und Cafés hatten wie immer geöffnet, und Sheldon schlenderte nonchalant in ein Bistro hinein, verschmähte zwar die ihm angebotenen Pommes und Burger, machte es sich dann aber neugierig auf einer Bank gemütlich. Ein introvertierter Kontaktverweigerer, eine Spaßbremse ist er eindeutig nicht, »social distancing« fällt ihm ziemlich schwer. Ein anderes Mal stand ihm dann an einem heißen Sommertag der Sinn nach einer luftigen Bootsfahrt, und er spazierte mal so eben auf den Steg am Grienericksee, wo sich im Sommer die Touristen drängeln, und dann schnurstracks auf das gerade angelegte Ausflugsschiff, mit dem man verschiedene mehrstündige Schifffahrten, zum Beispiel die »Fünf-Seen-Rundfahrt« durch teilweise unberührte Natur, unternehmen kann.
Sicherlich wird Rheinsbergs royalster und charmantester Kater schon längst gemerkt haben, dass seit ein paar Wochen irgendetwas anders ist. Veränderung mögen Kater gar nicht. Aber sein sonniges Gemüt wird ihm über die Krise hinweghelfen. Ob in der Stadt die vielen kleineren inhabergeführten Geschäfte, die Gaststätten, die Touristenunterkünfte, Handwerks- und andere -betriebe die Corona-Pandemie unbeschadet überleben werden, das ist wiederum eine Frage, die auch ein Sheldon nicht beantworten kann, denn schließlich ist er kein Tierorakel. So konnte er auch nicht ahnen, dass ihm seine Berühmtheit fast zum Verhängnis geworden wäre. Am 29. April versuchten zwei unbekannte Männer, ihn in ein Auto zu zerren und zu entführen. Ein aufmerksamer Mitarbeiter des Tucholsky-Museums, der in diesem Moment zufällig aus dem Fenster schaute, konnte dies gerade noch verhindern, die Möchtegern-Catnapper entkamen im Auto mit quietschenden Reifen.
Und aus dem Jenseits streckte ihnen Kurt Tucholsky die Zunge heraus.