Meine berufliche Tätigkeit, über Politik und Politiker zu berichten, hat Spuren hinterlassen – an mir selbst. Ich habe die Fähigkeit des normalen Menschen, sich zu wundern oder sich überraschen zu lassen, restlos verloren. Auch nach jüngsten Erfahrungen mit unseren Staatsduma-Abgeordneten blieb ich teilnahmslos. Von mir kam nur ein routiniertes »Na und?«
Es begann mit dem Vorhaben eines jungen Volksvertreters namens Robert Schlegel, der bis vor kurzem als Pressesprecher der Kreml-Bewegung »Die Unseren« tätig gewesen war. Kaum ins Parlament gewählt, entwarf der Enthusiast eine Gesetzesnovelle. Die Idee hätte von dem russischen Satiriker Saltykow-Schtschedrin stammen können, der einst der Zarenregierung spöttisch das Projekt »Über die Etablierung der Gesinnungsgleichheit in Rußland« nahegelegt hat. So weit wollte Schlegel nicht gehen. Sein Konzept lautete vergleichsweise bescheiden: Die Beamten sollen das Recht erhalten, jedes beliebige Presseorgan wegen »öffentlicher Verunglimpfung« ohne Gerichtsurteil einzustellen. Unter Verunglimpfung wäre zu verstehen, was die Beamten gewöhnlich als Verleumdung bezeichnen. Darunter könnte jeder kritische Beitrag fallen.
Seine Parlamentskollegen aus der Fraktion »Einiges Rußland«, die in der Duma über mehr als zwei Drittel der Sitze verfügt, wiesen ihn zunächst in die Schranken. Doch innerhalb weniger Tage kam es zu einem Stimmungsumschwung. Im Eilverfahren wurde die berüchtigte Novelle in erster Lesung angenommen – bei einer einzigen Gegenstimme. Rätselhaft: Wer oder was hatte den Meinungswandel bewirkt? In den gleichen Tagen hatte ein Boulevardblatt die Falschmeldung über die Heirat des damaligen Noch-Präsidenten Putin mit einer jüngen Schönheit in die Welt gesetzt. War die Novelle vielleicht eine Antwort des Kreml auf üble Nachrede?
Das Rätselraten dauerte genau drei Wochen. Dann, nach einem Treffen mit Putin, erklärte Parlamentspräsident Boris Gryslow gegenüber Journalisten feierlich, »Einiges Rußland« unterstütze die Novelle nicht mehr. Gefragt, warum seine Fraktion im regelmäßigen Abstand von einem Monat ihre Meinung ins Gegenteil verkehre, zeigte der Amtsträger, daß er nicht auf den Mund gefallen ist: Man habe den Medien signalisieren wollen, daß »es ein Problem gibt«. Sie veröffentlichten nämlich größtenteils verleumderische und diskriminierende Artikel. Dabei versteckten sich die Blätter oft hinter dem Vermerk, die Meinung des Verfassers stimme nicht unbedingt mit der der Redaktion überein. Gryslow berief sich auf die Meinung des neuen Präsidenten Dmitri Medwedew, der die Novelle für »verfrüht« halte. Also: nicht schädlich oder überflüssig, sondern lediglich verfrüht.
»Vorläufig könnt ihr ruhig schlafen«, sagte ein Abgeordneter nach einer Präsidiumssitzung des »Einigen Rußland«. Wie lange noch? Die Mammutpartei hat vor, das geltende Pressegesetz zu revidieren, weil es den modernen Verhältnissen, so Gryslow, nicht mehr gerecht werde. Der Abgeordnete Schlegel mit seinen Schnapsideen hofft, die vorbereitende Arbeitsgruppe leiten zu dürfen. Journalisten dagegen bleiben draußen – sie können nach fester Überzeugung der meisten russischen Politiker nur destruktives Gedankengut mitbringen.
Ich würde nun gern noch mit aller Vorsicht anmerken, wohin dieses Vorhaben vermutlich führen wird. Aber ich schließe lieber mit drei Punkten …