Die Gläserne Frau des Hygienemuseums Dresden war eine Attraktion des 20. Jahrhunderts: Sie machte den menschlichen Körper durchsichtig und förderte die anatomischen Kenntnisse. Heute ist der gläserne Bürger das begehrte Objekt für Polizei und Geheimdienste. Selbstverständlich nur, um Kriminalität und Terrorismus bekämpfen zu können.
Der Große Lauschangriff und die Speicherung sämtlicher Telekommunikationsdaten tragen dazu bei, die Bürger unter Kontrolle zu bringen. Noch setzt das Bundesverfassungsgericht Grenzen, die technischen Möglichkeiten für den Zugriff aber sind geschaffen. Bekannt sind die Skandale um die Erfassung aller Personenkraftwagen mittels der Mautportale im Land Brandenburg und um den Einsatz fester und mobiler Geräte in Hessen und Schleswig-Holstein, mit denen Millionen Nummernschilder erfaßt wurden. Im März erklärte das Bundesverfassungsgericht diese Ermittlungen »ins Blaue hinein« für grundgesetzwidrig. Nun müssen die Länder ihre Gesetze ändern. Nicht etwa, um die Kontrollen künftig zu unterlassen, sondern um sie zu »begrenzen«. Aber die Schlauen haben erst einmal ihre Pilotprojekte erfolgreich erprobt. Und der technische Fortschritt macht nicht halt:
Compass, das Magazin der Planung Transport Verkehr AG (PTV) in Karlsruhe, preist ein neues Modell von Kraftfahrzeugversicherungen an. Bisher wurden Versicherungsprämien unter anderem nach Fahrzeugtypen, Regionalklassen und Kilometerleistungsgruppen festgesetzt. So sind die Tarife auch nach Fahrleistung gestaffelt. Da der Versicherte diese im voraus schätzen muß, hat er den danach geschätzten Betrag zu zahlen, selbst wenn er weniger gefahren ist.
Jetzt wird eine neue Regelung angeboten. Das System heißt »Pay As You Drive« (Bezahle, was du fährst) und bietet eine nutzungsabhängige Prämie, ähnlich wie beim Wasser- und Stromverbrauch. Dazu muß die Versicherung wissen, wie viele Kilometer der Versicherte zu welcher Tageszeit auf welchen Straßen und mit welcher Geschwindigkeit zurückgelegt hat. Global Positioning System (GPS) macht‘s möglich. Aus der Aufzeichnung aller Fahrten wird der jeweilige Versicherungsbeitrag berechnet. Voraussetzung: Einbau einer Telematikbox. Und schon liegen alle Daten vor. Offen bleibt noch, wen der Fahrer getroffen hat oder wer mitgefahren ist.
Das System wird besonders für jugendliche Autofahrer empfohlen, damit sie nicht rasen, und für Senioren, die bewußt den unfallträchtigen Spitzenverkehr und Nachtfahrten meiden wollen. Es wurde 2005 von der britischen Versicherung Norwich Union eingeführt und ist inzwischen auch in Italien verbreitet, wo – laut Matthias Hanel von der PTV – bereits 500.000 Personenkraftwagen mit der Telematikbox ausgestattet sind. Das deutsche Pilotprojekt wird von der Württembergischen Gemeinde Versicherung AG Stuttgart und der Winterthur Versicherung eG. Wiesbaden gestartet.
Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch die großen Versicherungen von der Neuerung Gebrauch machen. Denn so »kriegen« sie auch jene Kunden, die ihre Jahreskilometer zu niedrig angeben. Wie viel der Autofahrer spart, sagt Compass nicht. Versicherungen sind jedoch erfahren genug, um zu wissen, wie man Tarife staffelt, damit die Bilanz mit Gewinn abschließt. Die individuelle Berechnung läßt Vergleiche nicht zu. Für einen schwer zu ermessenden Preisvorteil liefert der Kunde seine Daten freiwillig aus. Zwar sollen die Versicherungsgesellschaften nur die aggregierten Auswertungsergebnisse erhalten und keinen Zugriff auf »Lokalisierungsdaten« haben – die brauchen sie auch nicht –, aber mancher Fahnder könnte diese durchaus gebrauchen. Und wo die Technik es erlaubt, ist der Zugriff nur eine Frage der Organisation. Wie Compass schreibt, ist die Auswertung in unterschiedlichen »Detailtiefen« möglich. Unschwer ließen sich dann auch Bewegungsprofile ausdrucken: Man wüßte genau, wer wann wo gewesen ist. Die sofortige Ortung ist heute bereits möglich, wenn das Fahrzeug mit dem Notrufsystem eCall ausgestattet ist. Das löst bei einem Unfall automatisch einen Notruf aus, der die Position des Fahrzeugs übermittelt und schnelle Rettungsarbeiten erleichtert. Die EU-Kommission will dieses System ab September 2010 für Neuwagen zur Pflicht machen.
Ein anderes EU-Projekt ist die Entwicklung einer elektronischen Fahrzeugüberprüfung mittels Speicherchips, die Informationen über den Fahrzeughalter enthalten; die Daten können unbemerkt abgerufen werden. Die Nutzungsmöglichkeiten sind vielfältig. Zum Beispiel läßt sich feststellen, welche Fahrzeuge sich in der Nähe einer Demonstration aufhalten oder sich dorthin bewegen. Die Polizei praktizierte das mit der einfachen Radarerfassung bereits beim G8–Gipfel in Heiligendamm praktiziert.
Die Lobby für den serienmäßigen Einbau der Telematik und weiterer Entwicklungen kann man sich vorstellen. Compass sieht hier eine »neue Ära des Autofahrens«. Telematik werde auch in Deutschland alltäglich werden. PTV wirkt am System der Ortung mit Software mit. Die Frage nach dem Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung, nach der Freiheit der Ortswahl, nach Versammlungsfreiheit stellt sich für die Experten nicht. Die PTV-Technologie und ihr kommerzielles Pendant »Pay As You Drive« eignen sich als weiterer Baustein für die schleichende Umwandlung des liberal-demokratischen Rechtsstaats in den präventiven Überwachungsstaat.