»Anna Karenina« im Gorki-Theater, Berlin. Armin Petras hat Tolstois Romantext von 1200 auf 70 Seiten eingedampft, Jan Bosse setzte ihn in Szene.
Auf der Bühne war so etwas wie ein überdimensionierter Kaufmannsladen aufgebaut. Hoch getürmte Kästen (Bild: Stéphane Laimé). Saß man, wie ich, seitlich vorn, war man gezwungen, drei Stunden lang Kopf und Nacken extrem überdehnt zu halten, um die Szenerie nicht aus dem Blick zu verlieren. Zudem war ein Drittel der Boxen aus dieser Position nicht einsehbar. Ich begreife diese grassierende Manier nicht, ohne Rücksicht auf den Zuschauer Konzepte auszuführen. Das bedient zwar die Dramaturgie, benachteiligt jedoch den Konsumenten. Für wen machen Theaterleute Theater? Ich ärgere mich.
Licht an. Die Geschichte der Anna Karenina nimmt ihren Anfang, und alle Unbill ist vergessen. Mit Genuß und Vergnügen folge ich dem hochartifiziellen Spiel dieser wundervollen Schauspielertruppe: Fritzi Haberland (Anna), Ronald Kukulies (Karenin), Bernd Michael Lade (Stepan), Claudia Geisler (Dascha), Wanda Perdelwitz (Kitty), Robert Kuchenbuch (Levin), Milan Peschel (Wronski).
Trotz radikaler Komprimierung des Textes sieht und hört man Tolstoi, man erlebt die Geschichte der Karenina, ihre Suche nach Erfüllung in der Liebe, für die sie Mann, Kind, gesellschaftliche Reputation zum Teufel schickt. Diese Sehnsucht wird zur beherrschenden Sucht nach dem einen »Augenblick des Glücks«. Annas Leidenschaft wird zur Rutschbahn in die Selbstzerstörung.
Überraschend ist: Die Reduktion der Geschichte befördert deren Fülle, befeuert die Energie der Protagonisten. Sie alle lieben, leiden, weinen, toben, hassen, schreien nach diesem Glück erfüllter Liebe; sie wollen ihrem Alleinsein, dem Leerlauf entkommen, stürzen sich in Turbulenzen der Empfindungen, aus denen sie gar nicht oder nur schwer beschädigt wieder herausfinden.
Armin Petras hat die Dialoge der Figuren sinnreich mit Tolstois Erzähltext unterfüttert. Isoliert stehen, liegen, hocken, kleben die Schauspieler in ihren engen Lebensraumsärgen. In diesem geschachtelten Bühnenbild hört jeder jeden, leidet mit ihm oder ihr, reagiert auf Herz und Schmerz der/des Liebsten, beargwöhnt den Rivalen, die Konkurrentin. Die hermetische Verriegelung der Körper in den Boxen und das hochgeladene Geschehen bewirken einen Sog, optisch und emotional, dem man sich nicht entziehen kann. Empfindungen zucken wie Blitze über die Szene, erhellen, zerreißen das Thema Liebe.
Die »große Liebe« ist heute wie anno damals unbestrittenes Thema in allen Medien. Umfragen des Spiegel und der Zeitschrift Psychologie heute aus diesem Jahr belegen das. Ob verarmter Adel, Hartz-IV-Empfänger, abgemusterte Offiziere oder sonstwie aus Arbeitsprozessen ins Nichts katapultierte Existenzen – alle wollen ihren Glücksanspruch verwirklichen, indem sie die Eine, den Einzigen suchen. Sie schwören Treue, betrügen, sagen »ewig« und reichen die Scheidung ein.
Regisseur Jan Bosse ist es, bei allem Respekt vor dem Leidensdruck der Figuren, gelungen, seinen Darstellern den Spielraum »ironische Distanz« zu schaffen. Man lacht über die mannigfachen Irrungen und Wirrungen von Anna und Wronski, Kitty und Lewin, ohne sie auszulachen. Ein weiteres Verdienst der Regie und eines bemerkenswert homogenen Schauspielensembles.
So folgte ich trotz starren Halses und manch fehlender Bildeinsicht gebannt der Geschichte und deren Protagonisten.