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Titel1208

Jenny Gröllmann und der kleine 68er  (Heinz Kersten)

Bernau, 22. April 1945. In einer ärmlichen Wohnung hat sich eine Frau umgebracht. Ein junger Offizier der Roten Armee fragt ein junges Mädchen, ob die Tote ihre Mutter sei. »Nein, ich bin hier einquartiert, seit zwei Tagen. Vielleicht sollten wir uns alle aufhängen.« Und auf seine Frage, ob sie keine Familie habe: »Wir haben uns verloren. Wir sind aus Pommern und sollten nach Schwerin. Aber da kommt kein Aas mehr hin.« Ratlos steht das Mädchen am Abend wieder vor der Tür. Ob sie hier schlafen könne. Auf die anfängliche Abwehr des Leutnants »Hier ist keine Wohnung, hier ist die Kommandantur« sagt sie bitter-anzüglich: »Lieber mit einem als mit jedem ...«

Die fragile Gestalt mit den großen ausdrucksstarken Augen ist unvergeßlich Jenny Gröllmann, ihr Gegenüber in sowjetischer Uniform Jaecki Schwarz, und die Episode ihrer kurzen Begegnung entstammt dem Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase und Konrad Wolf zu dem Film »Ich war 19«. Autobiografisch erinnerte sich da der Regisseur Konrad Wolf an seine Rückkehr als junger Leutnant der Roten Armee aus dem Moskauer Exil in das Land seiner Kindheit, das er, Sohn des jüdisch-kommunistischen Arztes und Dramatikers Friedrich Wolf, 1933 verlassen mußte. Einen Tag war er 1945 Stadtkommandant von Bernau. Die DEFA-Produktion überraschte 1967 mit ihrer damals noch keineswegs selbstverständlichen ungeschminkten Darstellung des Kriegsendes.

Mit 20 spielte Jenny Gröllmann darin ihre zweite Filmrolle. »Sie war zufällig in der DDR. Sie hätt‘ ne ganze Weltkarriere machen können«, sagt der Fotograf Michael Weidt, ältester Freund der Schauspielerin seit Schweriner Kindertagen, in Petra Weisenburgers Dokumentation »Ich will da sein – Jenny Gröllmann«, die am 19. Juni in die Kinos kommt. Noch einmal wird da die Protagonistin in (allerdings nicht ganz glücklich ausgewählten) Filmausschnitten lebendig, Kollegen heben die Besonderheit ihrer Künstlerpersönlichkeit hervor (Michael Gwisdek: »In der kleinen DDR, wo wir uns alle kannten, auf der Szene, war Jenny alles: die Biene Maja und die Anregung für Fantasie und die Inkarnation der Sünde und die Inkarnation der Freiheit, des Lebens...«), und sie selbst kommt immer wieder während der zweijährigen Dreharbeiten mit der Regisseurin zu Wort, voller Humor und Lebensmut trotz zunehmender Schmerzen in ihrem bewundernswerten Kampf mit dem Krebs, dem sie am 9. August 2006 unterlag. Den Entschluß, diesen Film zu machen, faßte Petra Weisenburger im Juli 2004, als ihr Jenny Gröllmann offenbarte, daß ihr nur noch wenig Zeit bleibe. Noch einmal fuhren beide nach Ahrenshoop, Ferienort seit früher Jugend, und nach Paris zum Grab von Simone Signoret, Jennys Vorbild.

Am 5. Februar 1947 in Hamburg geboren, wurde die Tochter eines Bühnenbildners und einer Fotografin, die während der Nazizeit aktiv im Widerstand waren, von diesem politischen Engagement geprägt. Einem Schauspielstudium in Berlin-Schöneweide folgte 1966 ihr Engagement ans Berliner Maxim-Gorki-Theater, dem sie bis 1991 angehörte. Wie so viele herausragende und vielbeschäftigte DDR-Schauspieler blieb Jenny Gröllmann im Westen weitgehend unbekannt und erhielt nach der Vereinigung zwar noch TV-Angebote (häufig war sie in der Serie »Liebling Kreuzberg« zu sehen), fühlte sich aber künstlerisch unterfordert.

Höhepunkt ihrer Schauspielkarriere war die Rolle der Susette Gontard in Herrmann Zschoches Hölderlin-Film »Hälfte des Lebens« 1985 bei der DEFA. Die tragische Liebesgeschichte zwischen der Frankfurter Bankiersgattin und dem als Hofmeister in ihrem Haus angestellten Dichter – für Jenny Gröllmann war dies so etwas wie ein Schicksalsfilm. Sie verliebte sich in ihren Partner Ulrich Mühe, beide heirateten und bekamen eine Tochter; Anna Maria Mühe ist heute selbst eine erfolgreiche Schauspielerin.

Zwei Jahrzehnte später – das Paar war längst geschieden – beschuldigt Mühe seine todkranke Ex-Frau, ihn bespitzelt zu haben. Die derlei stets begierig aufgreifenden tonangebenden Medien benutzen dies als PR-Aktion für das Stasi-Drama »Das Leben der Anderen« (Hauptrolle: Ulrich Mühe), woran dessen Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck, einer der unsympathischsten Emporkömmlinge der Branche, nicht ganz unbeteiligt gewesen sein dürfte. Die menschliche Schäbigkeit überschattet Jennys letzte Lebensmonate, wenn es ihr auch gelingt, die Vorwürfe juristisch zu entkräften. Petra Weisenburger stieß bei ihren Recherchen beispielsweise auf den Widerspruch, daß die Schauspielerin zur Zeit eines angeblichen Treffs mit dem Führungsoffizier auf der Bühne des Maxim-Gorki-Theaters stand – ein Beleg mehr für die oft zweifelhafte Aussagekraft von Geheimdienst-Akten.

Im Film charakterisiert Peter Pragal, 1974-79 DDR-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, 1984-90 des stern in Ostberlin, dessen Frau sich bis zuletzt freundschaftlich um die Sterbenskranke kümmerte, Jenny Gröllmann: »Die war nicht so, also irgendwo an die Kette zu legen, schon gar nicht an eine ideologische Kette. Dafür war sie viel zu freiheitsliebend.« Ein Jahr nach dem Tod seiner Ex-Frau stirbt Ulrich Mühe selbst an Krebs. Petra Weisenburgers Dokumentation »Ich will da sein – Jenny Gröllmann« erinnert nicht nur an eine zu Unrecht fast vergessene große Schauspielerin, sie ist auch ein Akt der Wiedergutmachung.

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Als Rehabilitierung einer ganzen, heute gern diffamierten Generation, der 68er, kann man auch den Film »Lenin kam nur bis Lüdenscheid« sehen. Autor Richard David Precht, Jahrgang 1964, auf dessen im Vorjahr erschienenes autobiografisches Buch gleichen Titels die Produktion basiert, und der Kölner TV-Dokumentarfilmregisseur André Schäfer, geboren 1966, werfen keinen Blick zurück im Zorn, sondern mit Ironie. »68« wird nach 40 Jahren durch die Augen eines Kindes erinnert. In Lüdenscheid, 40 Kilometer östlich seiner Heimatstadt Solingen, verbrachte der junge Precht in den siebziger Jahren seine Ferien im Pfingstlager der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend, Oase Gleichgesinnter als Kontrast zum konservativen Gymnasium. Auch das Elternhaus ist so etwas wie eine sozialistische Enklave in kapitalistischer Umwelt. Der Vater liest Marx und Engels, von der Mutter lernen die vier Geschwister – zwei adoptierte hatten ihre vietnamesischen Eltern durch den Krieg verloren –, Coca-Cola und »Raumschiff Enterprise« zu verachten, aber Asterix als subversive Lektüre zu schätzen, weil da die Römer ähnlich den Amerikanern Besatzer sind. Vom Tierpark Berlin-Friedrichsfelde hat der Junge gelesen, daß der der größte der Welt sei, und die DDR stellt er sich als riesigen, durch eine hohe Mauer geschützten Zoo vor.

Archivaufnahmen werden ergänzt durch heutige, zum Teil in Super 8 gedrehte Szenen der Precht-Familie, neben der auch der damalige örtliche SDAJ-Vorsitzende Frank Knoche zu Wort kommt. Autor Precht: »Er hat erzählt, daß es in Solingen eine Gruppe von 100 aktiven Leuten gab, nur von der DKP und der SDAJ. So viele gibt es heute nicht von allen Volksparteien zusammen.«

»Lenin kam nur bis Lüdenscheid« ist der bisher beste Beitrag zum Jubiläumsjahr, das zumeist der Geschichtsverzerrung dient.