Welch ein Wonnemonatsfinale im Mai 2010! Supercool! Megageil! Hammerhart! Lena, das »kesse Mädchenwunder aus der niedersächsischen Landeshauptstadt« (Berliner Kurier), sang beim Grand Prix alle anderen Bewerber gnadenlos in den norwegischen Sommerwind und wurde mit einem in originellem hannoverschem Englisch vorgetragenen Schlager zum neuen europäischen Pop-Star.
Am Vorabend des 30. Mai, an dem die Welt nach den Prognosen der Wirtschaftsweisen irgendwann in einem Mix aus Ruß und Öl untergehen wird und der alte Noah noch mal seine Arche aus der Remise holen muß, um wenigstens die Politiker zu retten, ist in Oslo eine »neue deutsche Prinzessin« wie Phönix aus der Asche gestiegen.
»Ein Land, ein Lied, eine Lena«, titelte der Berliner Kurier am Tage nach dem Jahrhundert-Event bescheiden. Diese Steigerung kam mir zwar aus meinen Jugendtagen irgendwie bekannt vor und verursachte einen schalen Beigeschmack, aber da sollte man nicht zu kritisch sein.
Denn: Ein neues Zeitalter des Lenanismus wurde eingeläutet.
Wer rührte an den Schlaf der Welt? Na, wer schon: Lena!
»Wer an sich glaubt, kann Berge versetzen«, behauptete das Berliner Boulevardblatt an anderer Stelle. Das wiederum erinnerte mich an die weisen Worte des Großen Vorsitzenden Mao um 1960. »Sie schenkte uns die Hoffnung, daß es Deutschland schaffen kann«, interpretierte eine andere renommierte Tageszeitung. Hier schien außer Stefan Raab auch Barack (nicht zu verwechseln mit Ballack) Obama (nicht zu verwechseln mit Osama) Pate gestanden zu haben.
Wie dem auch sei: Das »Schneewittchen mit den kirschroten Lippen« gab Deutschland, Europa und der Welt wieder Hoffnung und brachte die Mitesser pubertierender Jungmänner auf einen Schlag zur Implosion. Und Lenas hochinteressanter Eintrag im Rathaus-Ehrenbuch wird die Niedersachsen und die übrige Welt lange in Atem halten: »Wow! Verdammte Axt! Ist das geil! Dankeschönst, Lena!«
Schon vor dem Event hatte sie ihre Volksverbundenheit überzeugend bewiesen. Als sie ihren Siegertitel »Satellite« den auf dem Platz vor dem Rathaus zusammengeströmten Massen erneut vorsang, motivierte sie die Hannoveraner mit der energischen Aufforderung »Wer nicht mitsingt, kriegt auf’n Arsch!« Wer hätte da widerstehen können!
So ausgelassen wie »unsere Süße« (nochmals Berliner Kurier aus dem DuMont-Konzern, der auch Berliner Zeitung, Kölner Stadt-Anzeiger, Frankfurter Rundschau, Express und etliche weitere Blätter herausbringt) wirkte unser oberster Bundesköhler nicht, als er, sein Köhlerliesel fest an der Seite, den noch im Lena-Rausch schwelgenden deutschen Blutsbrüdern und Blutsschwestern einen Tag später seinen Rücktritt verkündete und danach spornstreichs seinen beflaggten Meiler verließ. Was war geschehen?
Nach einem Besuch bei unseren tapferen deutschen Landesverteidigern am Hindukusch hatte der Präsident in einem Interview hoch über den Wolken etwas zu erkennen gegeben, was er als Staatsmann hätte bedeckt halten sollen. Hatte er doch, wenn auch syntaktisch etwas verholpert, erklärt, daß deutsche militärische Einsätze im Ausland auch aus wirtschaftlichen Interessen geführt werden. Diesen Zusammenhang wird zwar kein real denkender Zeitgenosse bestreiten, aber so, verehrte Bundesbürger, liebe Neger, geht’s natürlich nicht.
Prompt wurde unser Bundesboß Opfer einer Praxis, die schon bei den alten Römern gang und gäbe war und die Tucholsky ein paar Jährchen später so formulierte: »Im übrigen gilt hierzulande der als gefährlich, der auf den Schmutz hinweist, nicht derjenige, der den Schmutz macht.«
Das kann den Ex-Bundespräsidenten aber nicht entlasten, jedenfalls nicht in meinem Verständnis. Sagte er im Interview doch auch: »Aber es wird wieder Todesfälle geben, nicht nur bei Soldaten ... Das ist die Realität unseres Lebens heute ... Man muß auch um diesen Preis sozusagen seine am Ende Interessen wahren.«
Damit begab er sich in ein Terrain außerhalb des Artikels 26 (1) des Grundgesetzes. Er hat seine Pflichten als oberster Repräsentant eines Gemeinwesens gröblichst verletzt und irreparabel verspielt.
Und dann legte er sein Amt nicht einfach nieder, sondern schmiß es hin. Das klang ähnlich wie im November 1918, als der sächsische August mit den Worten abdankte: »Macht doch Eiern Dreck alleene!«
Kaum hatten der weggetretene Präsident und das Köhlerliesel dem Schloß Bellevue den gebeugten Rücken gekehrt, begann die Spekulation um den Nachfolger. Mich fragt zwar keiner, aber wenn mich einer nach meinem Favoriten fragen würde, ich müßte für Margot Käßmann plädieren. Und das aus drei Gründen. Erstens: Sie ist gegen den Krieg und eine ehrliche Haut. Zweitens: Sie hat bewiesen, daß sie mit Würde zurücktreten kann. Drittens: Sie müßte den Dienstwagen des Bundespräsidenten nicht selber steuern.