Es ist an der Zeit, dem so arg gescholtenen Ex- und Altpräsidenten Horst Köhler an die Seite zu springen. Nahezu alle schlagen auf ihn ein. Selbst die sich seriös gebende Frankfurter Allgemeine Zeitung nennt ihn einen »präsidiale(n) Rohrkrepierer« und »Fahnenflüchtling«, dessen »Amtszeit blamabel war«.
Die Schimpfkanonade gilt seinem überraschenden Rücktritt, weniger oder gar nicht seinem Interview für Deutschlandradio Kultur, das er auf dem Rückflug vom afghanischen Kriegsschauplatz und Truppenbesuch in Mazar-I-Sharif gegeben hatte. Auch daran freilich hatte Köhler Kritik einstecken müssen. Es war ja auch seit Jahrzehnten nicht dagewesen, daß ein deutsches Staatsoberhaupt ohne jeden Skrupel erklärte, ein Land von der Größe der Bundesrepublik mit seiner Außenhandelsorientierung und -abhängigkeit müsse im Notfall auch militärisch eingreifen, um seine Interessen zu wahren und regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit auch auf deutsche Chancen zurückschlagen würden. Die Zurückweisung kam prompt. Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, also derjenigen Partei, die entscheidende Verantwortung für den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch trägt und Jahr für Jahr für dessen Verlängerung votiert, beteuerte: »Wir wollen keine Wirtschaftskriege.« Deutschland führe in Afghanistan »keinen Krieg um Wirtschaftsinteressen, sondern es geht um unsere Sicherheit«. Klaus Ernst dagegen, der Ko-Vorsitzende der Partei Die Linke, die als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien den Einsatz von Anfang an ablehnte und dessen sofortige Beendigung fordert, betonte, Köhler habe offen gesagt, was nicht zu leugnen sei: »In Afghanistan riskieren Bundeswehrsoldaten Gesundheit und Leben für die Exportinteressen riesiger Konzerne.« Der stellvertretende Vorsitzende der Grünen im Bundestag, Frithjof Schmidt, bezeichnete die Erklärung Köhlers als »brandgefährlich«, und der Außenexperte der CDU, Rupert Polenz, distanzierte sich vorsichtig von den »etwas mißverständlichen« Äußerungen des Präsidenten. Selbst die Kanzlerin war nicht bereit, sich schützend vor das Staatsoberhaupt zu stellen. Auf einer Pressekonferenz ließ sie lediglich verlauten, man pflege Einlassungen des Bundespräsidenten nicht zu kommentieren.
Dabei hatte der Bundespräsident, wenn auch in Ausdruck und Satzbau ziemlich holperig, keine neue Militärdoktrin formuliert, sondern nichts anderes als die reine Wahrheit gesagt, die in zahlreichen öffentlich bekannten Dokumenten, so im »Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr« auf Seite 26, nachzulesen ist: »Die Sicherheitspolitik Deutschlands wird von den Werten des Grundgesetzes und dem Ziel geleitet, die Interessen unseres Landes zu wahren. Insbesondere: ... den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstandes zu fördern ...« Diese Doktrin befindet sich in völliger Übereinstimmung mit der EU-Sicherheitsstrategie von 2003, die, woran das Handelsblatt erinnerte, ausdrücklich anerkennt, »daß die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen sowie die Sicherheit von Handelswegen eine der sicherheitspolitischen Herausforderungen ist. Köhlers Äußerung ist so gesehen eine Binsenweisheit.«
Und wegen dieser Binsenweisheit der ganze Aufruhr? Und dieser wiederum soll der alleinige Grund für Köhlers Rücktritt sein? Seit wann darf denn ein Bundespräsident nicht mit eigenen Worten wiederholen, was mittlerweile herrschende Militär- und damit auch Staatsdoktrin ist? Warum darf er nicht die Wahrheit sagen? Welch ein Unterschied zu den Lügen über den Sozial- und Rechtsstaat Bundesrepublik und den Unrechtsstaat DDR, mit denen er sich während seiner Amtszeit stets hervorgetan hat! Wiederholt empfing er gemeinsam mit dem SED-Diktatur-Oberaufarbeiter Eppelmann im Schloß Bellevue Schüler, um sie vor einer Verklärung des untergegangenen Staates zu warnen, wobei er ihnen so faustdicke Lügen wie diese auftischte: »Selbst Jugendliche, die sich gar nicht politisch engagierten, konnten in das Räderwerk der Unterdrückung geraten. Es reichte in der DDR schon, seine eigene Musik hören, seinen eigenen Berufswunsch verfolgen oder sich seine Freunde selber aussuchen zu wollen.« Damit die Erinnerung an dieses schreckliche Regime lebendig bleibt, leistete Köhler bei jeder passenden Gelegenheit seinen Beitrag, so auch am 9. Oktober 2009 auf dem Festakt zum 20. Jahrestag der Leipziger Montagsdemonstration, als er die damalige Lage unter anderem so schilderte: »Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schußwunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.« Das war eine allen Tatsachen widersprechende ungeheuerliche Lüge, die ausnahmsweise sofort platzte. Derart der Unwahrheit – man könnte auch sagen: der Volksverhetzung – überführt, hätte er sich sofort persönlich entschuldigen und von Rechts wegen seinen Rücktritt zumindest anbieten müssen. Doch nichts dergleichen geschah. Im Unterschied zu den wahrheitsgemäßen Aussagen über die strategischen Ziele der Auslandseinsätze der Bundeswehr riefen die lügnerischen Behauptungen Köhlers über ein von den SED-Diktatoren angeblich eingeplantes Massaker keinen Sturm des Protestes und der Empörung hervor, kaum ein schwaches Lüftchen war zu spüren.
So ist das eben in Deutschland: Bundespräsidenten dürfen lügen, aber mit der Wahrheit sollten sie vorsichtig umgehen. So betrachtet wäre vor allem der SPD-Kandidat, Joachim Gauck, eine gute Wahl.