Seit Februar dieses Jahres läuft nun die Berichterstattung über die prekäre Haushaltssituation in Griechenland, und von Beginn an kam es, vor allem in der rechten und rechtsliberalen Presse, zu einem ungeahnten Ausbruch von Ressentiments. Bild begann sogleich mit Panikmache und schürte Angst »um unser Geld«. Focus verfiel auf die Idee, eine griechische Aphrodite mit obszöner Geste medienwirksam auf dem Titelblatt zu plazieren, um so auf den tiefen Fall der Griechen, der »Betrüger in unserer Familie«, hinzuweisen. Zeit, FAZ und FAS zogen bald nach, vorsichtiger im Ton, doch in der Sache meist ebenso vorurteilsbehaftet und desorientierend. Woher kam diese Gehässigkeit, woher dieser Versuch, eine ganze Nation zu stigmatisieren?
Das erste Hauptmotiv ist sicher die Furcht vor neuen steuerlichen Belastungen oder gar einer neuen Inflation, die sich im Kontext der Weltwirtschaftskrise besonders leicht schüren läßt, vor allem wenn »Trickser und Betrüger« ausgemacht werden konnten. Auf politische und ökonomische Gründe der griechischen Haushaltsprobleme wird zwar hingewiesen (Klientelwirtschaft, grassierende Bestechungspraxis und so weiter), die tieferliegenden Ursachen, die spezifischen Klassenkonstellationen, werden dagegen ausgespart; statt dessen geht es in sattsam bekannter Weise gegen »die« Griechen und deren balkanhafte Mentalitätstruktur. Und solche Aspekte können dann genüßlich ausgewalzt werden, wie das im Focus geschah.
Dann grub der Focus historisch etwas tiefer, um zu erklären, wie es zu der aktuellen Krise gekommen sei. Der Autor scheut sich nicht, sich unter dem Titel »2000 Niedergang der Kultur« auf den berühmt-berüchtigten Ethnogeographen J. P. Fallmerayer zu berufen, der um 1830 zu der Einschätzung gekommen war, daß die modernen Griechen gar keine Griechen seien, sondern sich längst mit Albanern, »slawischen Unholden« und später auch Türken vermischt hätten. Diese »Durchrassung« – um eine spätere Begriffsprägung zu zitieren – habe dann den 2000 Jahre währenden Untergang der Kultur besiegelt. Den zeitgenössischen Beweis kann der Autor mühelos beibringen, denn wer hätte im heutigen Griechenland das Niveau eines Sophokles, Platon, Aristoteles oder Phidias? Der Niedergang habe sich schon mit der Aufweichung des Konkurrenzprinzips abgezeichnet, später seien die Niederlagen und Erniedrigungen durch Römer und vor allem Türken gefolgt. Heute sei die Zeit der Erniedrigungen vorbei, doch der Niedergang sei allgemein, nicht nur in den Künsten, sondern in nahezu allen Lebensbereichen.
Ausgespart wird der Hinweis auf die blutige und höchst verlustreiche Okkupation durch deutsche Nazitruppen im Zweiten Weltkrieg (man vergleiche dazu Mark Mazowers beeindruckende, auf deutsch bislang nicht vorliegende Studie »Inside Hitler’ s Greece«), ausgespart werden auch die Jahrzehnte einer relativen politischen und ökonomischen Stabilisierung nach 1974, also nachdem die von der NATO und der Bonner Regierung unterstützte Militärdiktatur überwunden war. Die aktuelle Krise erscheint so als Durchbruch der wahren Situation, als logischer Endpunkt der unumkehrbaren und eigentlich offen zu Tage liegenden Verfallsgeschichte unseres balkanischen Hinterhofs. Bemerkenswert, wie all dies keinesfalls etwa bedauernd, sondern oberlehrerhaft-dozierend und dabei mit geradezu sadistischer Lust ausgebreitet wird.
Ein kurz darauf in der Zeit erschienener Artikel (Titel: »Diese Griechen«) wird auf den »polemischen Überschuß« aufmerksam und sucht ihn mit dem deutschen Idealismus und der deutsch-griechischen Seelenverwandtschaft zu erklären, die auch im »Unterfutter des Nationalsozialismus« (wie es kryptisch heißt) und in der Abendland-Ideologie der Adenauer-Ära überdauert habe. Es sei also unser eigenes, idealisierendes, an der Antike ausgerichtetes Griechenbild gewesen, das Deutschland seit dem 19. Jahrhundert exportiert habe und mit dem wir die Griechen immer wieder in die Opferrolle gedrängt hätten. So sähen sich die Griechen auch jetzt wieder als Opfer der EU, ohne jemals irgendwelchen antikisierenden oder gar an Demokratie und Effizienz ausgerichteten Idealen entsprochen zu haben oder entsprechen zu wollen. Die Deutschen wie auch andere Europäer hätten permanent den »Dritteweltzustand« Griechenlands übersehen, seien deshalb jetzt enttäuscht und dementsprechend zur Polemik bereit.
Auch dieser Erklärungsversuch, der zwar weniger genüßlich-sadistisch, sondern eher selbstkritisch wirkt, liefert keine konkrete historische Analyse der augenblicklichen Krise oder der griechischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte, sondern bleibt wie viele andere Ansätze in bildungsbürgerlichen Spekulationen stecken. Sicher, es mag schon sein, dass man sich vor allem in der Vergangenheit ein idealisierendes Bild Griechenlands zurechtgelegt hat, das natürlich so nie gestimmt hat. Der »polemische Überschuß« scheint mir damit überhaupt nicht erklärt, sondern verschleiert. Eher ist davon auszugehen, daß man die Griechen ganz bewußt zu Sündenböcken gemacht und dabei (fast) totgeglaubte Vorurteile und Ressentiments mobilisiert hat, um so – im Allgemeinen – von den wirklichen Ursachen der Weltwirtschaftskrise abzulenken sowie – im Besonderen – von der Rolle, die Deutschland und andere EU-Länder bei der Aufnahme Griechenlands in die EG und später in die Eurozone gespielt haben, namentlich den höchst materiellen Interessen an Marktausweitung, Rüstungsexporten und außenpolitischer Dominanz. Denn selbstverständlich hat man die Griechen nicht wegen der »Ausstrahlungskraft der antiken Klassik« in die EG aufgenommen. Und obendrein nutzt man die Gelegenheit, sozialpolitische Forderungen im Inland zurückzuweisen, denn das kreidet man den Griechen am meisten an: daß sie sich geradezu ein »soziales Schlaraffenland« aufbauen wollten.
Mittlerweile ist das Hilfspaket für Griechenland geschnürt; es enthält keine Geschenke, sondern neue Kredite, damit alte Zinspflichten (auch und gerade bei deutschen Banken) erfüllt werden können, und diese Hilfe ist mit der Auflage verbunden, den Haushalt durch drastische Kürzung von Sozialleistungen zu sanieren. Die Zustimmung des griechischen Parlaments löste eine Serie von Demonstrationen und Protestaktionen aus. Nachdem auch das deutsche Parlament seinen Segen gegeben hat, haben die antigriechischen Attacken nachgelassen, wenn auch Focus im Mai noch einmal Aphrodite auf dem Titelblatt präsentierte, diesmal mit aufgehaltener Hand.
Um Stimmungsberichte zu erhalten, die Haltung in der Bevölkerung und die Chancen einer tatsächlichen Haushaltssanierung auszuloten, schickte man jetzt Reporter direkt nach Athen, doch das muß nicht zu besseren Ergebnissen führen, wie ein Zeit-Artikel zeigt, dessen Autor es sich nicht verkneifen kann, schon in der Schlagzeile den Status Athens als »Wiege der Kultur« in Frage zu stellen, wobei er auf die »natürlich dummen, aber manchmal leider auch ganz lustigen Charakterisierungen in Bild und Focus« verweist. Es ist dann auch nicht weiter überraschend, wenn ein Reporter, der sich ein paar Tage in den Straßen, Cafes und Künstlerkneipen herumtreibt und dabei nur mit ein paar Popkünstlern ins Gespräch kommt, kaum Erhellendes zu berichten weiß und sich am Schluß trotz der überwältigenden Erfahrung der Akropolis nach der »Zivilisation Berlins« zurücksehnt. Auf die Idee, mit Arbeitern, Gewerkschaftern, Rentnern oder Hausfrauen zu sprechen oder auch mit Politikern und kritischen Intellektuellen, kommt er nicht, weshalb der Artikel nicht einmal als Stimmungsbericht taugt. Da wirkt ein ebenfalls Mitte Mai erschienener Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung fast schon wie ein Lichtblick: Hier geht der Autor auf den menschenleeren »Arbeitsplatz des Sokrates«, die unterhalb der Akropolis gelegene Agora, und fühlt sich vom stets kritisch nachfragenden Sokrates dazu inspiriert, nicht mehr den »Meinungen in der Menge«, der Medienberichterstattung und ähnlichen Oberflächlichkeiten zu folgen, sondern »selbst zu denken«.
Jürgen Pelzer, zur Zeit in Athen, ist Professor für Germanistik und Kulturwissenschaften in Los Angeles.