Jahrzehntelang, bis Dezember 2009, verkehrten Tageszüge von Venedig nach München und nach Wien, mit denen ich oft bequem hin- und hergereist bin. Direktverbindungen.
Mit dem Winter-Fahrplanwechsel wurden sie eingestellt; nur je ein direkter Nachtzug verblieb, der meist frühzeitig ausgebucht ist. Tagesreisen aus dem Süden über die Alpen erfordern nun ein zeitraubendes Umsteigen in Verona, wo die Anschlußzüge nicht koordiniert sind. Die Reisedauer von Venedig nach München verlängert sich dadurch um gut eine Stunde. Nach Wien muß man sogar am Piazzale Roma einen Reisebus besteigen, der einen via Autobahn über die Grenze nach Villach bringt; erst auf österreichischer Seite geht es dann per Zug weiter.
Erstaunte, auch empörte Nachfragen ob dieser Verschlechterung, zu der noch die Unmöglichkeit kommt, von Venedig aus eine Fahrkarte ins nördliche Ausland zu lösen oder die Anschlüsse zu erfahren, ergaben am Schalter nur Achselzucken oder den Hinweis, das liege an der Deutschen Bahn, die jetzt die Strecke ab Verona befährt, man könne im Internet buchen oder im Zug direkt.
Bei www.bahn.de erfuhr man, für die Verbindung zwischen Italien, Innsbruck und München sorge nunmehr ein joint-venture zwischen DB und ÖBB, um den Reisekomfort auf dieser Strecke zu verbessern. Das klingt wie Hohn – aber ich sah diesen Rückfall in die Kleinstaaterei einfach als Negativfolge wahnhafter Liberalisierung der Streckennetze an – bis mir am 28. Mai die römische Tageszeitung il manifesto die Augen öffnete: Der Berliner Korrespondent Guido Ambrosino berichtete dort über das vom Parlament verabschiedete Gesetzesdekret/Eildekret vom 28. April, mit dem die italienische Regierung per sofort die Wirkung rechtskräftiger Urteile außer Kraft setzen will, insbesondere jenes, das – nach Jahrzehnten – den italienischen Deportierten und den Familien der Opfer von Naziverbrechen im 2. Weltkrieg eine späte, symbolische Entschädigung garantiert. Damit tut sich das tief beschämende Kapitel deutscher Nachkriegsverantwortung in Europa auf. Bis heute werden finanzielle Entschädigungsansprüche erfolgreich abgewehrt. Ob seiner Komplexität kann das hier nicht im Einzelnen erörtert werden.
Nur soviel: Als sich die Bundesrepublik Deutschland nach mehreren rechtskräftigen Gerichtsurteilen in Griechenland und Italien zugunsten der Opfer von Massakern weigerte, ihrer Entschädigungspflicht nachzukommen, erwirkte der Anwalt der italienischen Opfer, Joachim Lau, eine Vollstreckung in deutsche Vermögenswerte in Italien. So wurde schon vor einigen Jahren das idyllische deutsche Kulturinstitut Villa Vigoni am Comer See mit einer Hypothek als Garantie für die Opfer belegt. Als auch das Guthaben der DB bei der italienischen Eisenbahn (rund 50 Millionen Euro) zur Pfändung anstand, unterbrach die Bahn, um die Gefahr einer weiteren Vollstreckung abzuwenden, die bisherige finanzielle Kooperation mit der italienischen Eisenbahn, wie jetzt im manifesto zu lesen war. Gleichzeitig erhoben die Deutschen 2008 Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag und fordern »Staatenimmunität« ein. Denn man möchte keine Präzedenzfälle schaffen. Allein in Italien stehen noch etwa 200 weitere Schadensersatzklagen an: Immerhin deportierten die Deutschen nach dem 8. September 1943 circa 600.000 Italiener als Zwangsarbeiter ins Reich, von denen nur noch eine Minderheit lebt; deren Forderungen blieben jahrzehntelang ungehört. Und noch manche weiteren Verbrechen sind ungesühnt: Das Massaker von Civitella bei Arezzo kostete 244 Menschen das Leben, in Cervarolo und Monchio auf dem Appenin wurden 390 Menschen ermordet. Der römische Kassationshof hatte entschieden, daß im Falle schwerer Kriegsverbrechen die Verurteilung von Staaten zur Entschädigung auch vor ausländischen Gerichten zulässig ist.
Dagegen wendet sich nun das vom italienischen Regierungschef, sowie seinen Justiz- und Außenministern vorgelegte Eil-Dekret zur Suspendierung der Urteile auf Entschädigung – ein verfassungswidriger Akt, wie Anwalt Lau feststellt: ein »Eingriff in die Unabhängigkeit der italienischen Justiz« und ein Schlag ins Gesicht der Italiener, die aus Gründen staatspolitischen Opportunismus um ihr spätes Recht gebracht werden sollen. »Die Spannungen in den internationalen Beziehungen sollen damit beseitigt werden«, so die schlichte Begründung des Dekretes, das sich einfügt in die große Entsorgung der faschistischen Vergangenheit. So soll den jüngst von der Regierung geplanten Sparmaßnahmen sogar das Museum der Via Tasso zum Opfer fallen, das die berüchtigten Folterkammern des deutschen Polizeichefs von Rom, Herbert Kappler, beherbergt. Auch diese schmerzhafte Erinnerung soll ausgelöscht werden in dem Generalangriff auf das Denken, dem wir ausgesetzt sind.
Von all dem ahnen die meisten Reisenden vor italienischen Fahrkartenschaltern nichts. Europa, Europa …!
Lesehinweis zur Vorgeschichte: Erich Kuby: »Verrat auf deutsch. Wie das Dritte Reich Italien ruinierte«, Hoffmann und Campe, 1982