»Im Namen der Republik!« lautet der letzte Satz in Georg Büchners »Dantons Tod«. Im Namen der Republik wurde das Stück geschrieben, als Debattenbeitrag in einer zwischenrevolutionären Situation. Wozu aber wurde das Drama kürzlich im Berliner Maxim Gorki Theater aufgeführt?
Büchner hatte sich intensiv mit der Französischen Revolution befaßt und ihre inneren Widersprüche erkannt: Sie hatte die Monarchie gestürzt, Verfassung und Menschenrechte gebracht und darüber hinaus soziale Probleme kenntlich gemacht, zu deren Lösung jedoch auch die revolutionärsten Köpfe wie Marat, Danton, Robespierre, St. Just, gar Babeuf nicht in der Lage waren. An Karl Gutzkow schrieb er 1835: »Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt« – die Errichtung der Republik war ein erster, doch wichtiger Schritt. Der zitierte Schlußsatz hat also in dem genialen, wenn auch unausgereiften Drama seinen sehr richtigen Platz und darf nicht weggelassen werden.
Der Dichter handelt nicht die Revolution ab, sondern einen Abschnitt, den der Krise der Jakobiner-Regierung, in der ein hochdramatischer Diskurs über revolutionäre Methoden möglich wurde. Davon freilich war in dieser »Vorzeigung« (unter »Regie« stand der Name Sebastian Baumgarten) so gut wie nichts zu bemerken. Das Volk bestand aus Marionetten, die Revolutionäre wurden als »Terroristen« verstanden, also mißverstanden, der öffentliche Ankläger Fouquier-Tinville »frißt« während einer Verhandlung, wichtigste historische Texte sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das Ganze ist eine fatale Entgleisung, im Grunde Verfälschung eines der wenigen wirklich großen Dramen deutscher Literatur. Das kann nicht mehr mit Freiheit der Kunst oder mit Deutungshoheit von Regie und Eigenständigkeit von Theater als Kunst erklärt, gar verteidigt werden – das ist grobe Fälschung von Literatur. Hier muß im Namen der besten, der demokratischen, in diesem Fall früher generationenlang unterdrückten deutschen Literatur protestiert werden. Letztlich ist es Geschichtsfälschung. Was verdankt Europa nicht alles dieser großen Revolution! Deren rund 3000 Opfer seien nicht vergessen – eine einzige Schlacht der vereinten Reaktion gegen Bonaparte kostete das Zigfache!
Beim Theatertreffen sah ich die sonderbare, doch nicht uninteressante Performance »Othello c’est qui«. Der Grundeinfall ist nicht abwegig: Warum, für wen und wie spielt man eigentlich »Othello« oder »Hamlet«? Welche Bedeutung haben deren Begriffe von »Ehre« oder »Eifersucht«? Letzterer ist freilich für Othello zu klein gegriffen. Dort geht es nämlich um mehr, um Rassismus und damit auch um eine Klassenfrage im alten Venedig unter der Herrschaft der Dogen. Dahinter und darin stecken erstklassige Fragen, die bei jeder Inszenierung neu zu beantworten sind – womit sich entscheidet, ob die antike und bürgerliche Klassik tot, nicht mehr verwendbar ist. Die Autoren dieses »Othello« (Monika Gintersdorfer und Knut Klassen zusammen mit dem afrikanischen Tänzer Franck Edmond Yao und ihrer deutschen Performerin Cornelia Dörr) haben Recht, das Erbe zu befragen. Bei den Antworten hapert es. Bei Versuchen ist Dörr, die Frau, ehrlicher als der eher machistische Mann, Yao. Also: Wie mit dem Erbe umgehen? Kann man Antike oder Shakespeare bearbeiten? Meine Antwort ist ebenso einfach wie schwierig: Man kann, wenn man es kann. Manche konnten – die meisten nicht.
Ich bekam beim Theatertreffen ein wenig vom Stückemarkt mit. Es soll 300 Einsendungen gegeben haben, fünf davon hatte man ausgewählt, drei lehnten sich an Jonesco an, an die unvergeßlichen »Nashörner« und den komischen »Spaziergänger der Luft«. Da wird Politisches deutlich, deutlicher als in der feinsinnig-tieferen Komik Becketts: Die gefährlichen Farcen der heutigen Geldmächte, die Täuschungsmanöver dieser Großgangster internationaler Finanzmärkte, besser: Arenen, gar Schlachtfelder, die bald blutig werden könnten, kommen scharf ins Bild.
Als ich an einem Abend am Festspielhaus Schaperstraße (früher Freie Volksbühne West) vorbeikam, war Pause. Ich schaute nach, man gab mein heiß geliebtes Horvath-Stück »Kasimir und Karoline«, inszeniert von Johan Simons in einer Szenografie Bert Neumanns, ein Kölner Gastspiel. Da ging ich einfach hinein, fand einen Platz. Wie weiland als Student. Das war Theater der Anklage, des quasi stillen Aufschreis, auch der Wehrlosigkeit. Ich kenne Horvath widerstandsfähiger. Ja, wenn die Klügsten des Landes, also der ehrlichen Seite, also der Opposition, sich ohnmächtig hinstellen, klagend – was dann?
Die von mir geliebte und mehrfach hervorgehobene Gruppe »Rimini-Protokoll« brachte wieder eine hervorragend kritische Produktion: »Heuschrecken«. Damit traf sie unsere Zerstörer auf gewaltige, mit Sicherheit wiederum unwirksame Weise. Diese Zerstörer sind offenbar unzerstörbar bis zum allgemeinen Untergang – in der von ihnen verursachten Gesamtzerstörung werden sie selbst untergehen, wie gehabt. Nur diesmal wird der Untergang universell sein – ich kann mir diese Leute nur als Todesspieler vorstellen. Einiges davon kam bei den Riminis herüber, manches war anders. Doch sie trafen ins kranke Hirn dieser großen Un-Ordnung, die offenbar noch immer ein gesundes Herz hat, das sie sträflicherweise überleben läßt.
Freude und Humanität brachte eine kleine Gruppe, das Karlshorster Zimmertheater, mit einem Kästner-Abend unter dem etwas umständlichen Titel »Junge schick die Wäsche – oder: Die große Freiheit ist es nicht geworden«. Ich sah den Abend am 10. Mai, also dem Jahrestag der deutschen Bücherverbrennung von 1933, deren Zeuge Kästner war. Daran denkend setzten Wolfgang Helfritsch und sein Mini-Ensemble die Pointen besonders spitzzüngig und um so wirksamer ein. Leider spielten sie nicht in ihrem Karlshorster Stammquartier, dem alten Kulturhaus, das in absehbarer Zeit abgerissen wird. Sie waren zu Gast im »Tschechow-Theater« in Hellersdorf. Das tat ihrem Können kaum Abbruch, doch ihrem Publikum, das den Weg dorthin nicht fand. Die Wenigen freilich waren als Zuschauer wunderbar. Der gallig kritische Kästner tut immer gut, besonders in unguten Zeiten.