Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland erwartet, daß jede und jeder im Falle einer Erkrankung oder eines ernsthaften körperlichen Gebrechens Zugang zu angemessener medizinischer und therapeutischer Versorgung hat. In der schwarzgelben Koalition ist das Gesundheitswesen fest in der Hand der FDP. Der zuständige Bundesminister war bis vor kurzem Philipp Rösler, Nachfolger ist sein Parteifreund Daniel Bahr. Rösler ist zwischenzeitlich zum Vorsitzenden der FDP aufgestiegen und leitet jetzt das Wirtschaftsministerium. Seine Partei scheint ihm zuzutrauen, den Neoliberalismus möglichst in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens voranzutreiben.
Zu Beginn seiner Amtszeit als Gesundheitsminister hatte er wiederholt die Befürchtung geäußert, niemand werde mehr an seiner Arbeit interessiert sein, wenn er nicht bald erste Erfolge vorweisen könne. Seitdem ist die Crew der Ministerialbeamten im Gesundheitsressort eifrig bemüht, die Ratschläge der Lobbyisten aus der Privatversicherungswirtschaft ebenso wie aus der Riege der Ärztefunktionäre zu befolgen. Daß die Pharmakonzerne auf dem deutschen Gesundheitsmarkt lukrative Geschäfte machen können, war schon immer, unter allen bisherigen Regierungskoalitionen, selbstverständlich.
Kernforderung der Versicherungskonzerne ist die Einführung einer generellen privaten Absicherung von Gesundheitsrisiken für jede und jeden, schlagwortartig auch bekannt unter dem Namen »Kopfpauschale«, die sich aber nicht einmal in der jetzigen Regierungskonstellation so einfach durchsetzen läßt, die CSU ist strikt dagegen. Also versucht man es mit vielen kleinen Schritten wie zum Beispiel der Erhöhung der Beiträge zu den Gesetzlichen Krankenkassen – allein zu Lasten der Arbeitnehmer, während die Arbeitgeber entlastet werden. Als »Gewöhnungspille« soll die zusätzliche Erhöhung des Pflichtbeitrags um 29 Euro für jeden gesetzlich Abgesicherten wirken, wofür im Gegenzug auf die ungeliebte »Praxisgebühr« verzichtet wird und »sozial Schwache« einen Zuschuß aus Steuergeldern beantragen können. Die Arbeitgeberbeiträge werden von derartigen Zusatzlasten wieder einmal ausgenommen.
Die Privatärzteschaft und besonders die Krankenhäuser zufriedenzustellen, erweist sich als schwieriger. Diese klagen seit Jahren – überwiegend zu Recht – über immer rigider vorgegebene Budgetbegrenzungen und Fallpauschalen, mit denen die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) ihre Mehrbelastungen auf die Arztpraxen und Krankenhäuser abwälzen dürfen. Schon seit 2004 haben Mitglieder der GKV die Möglichkeit, sich vom Arzt eine Rechnung schreiben zu lassen und selber zu bezahlen, um sich anschließend – soweit möglich – von ihrer Versicherung das Geld per Antrag zurückzuholen. Bei Privatversicherten sowie bei Beamten mit Beihilfeberechtigung und privater Teilversicherung ist das der vorgegebene Standard. Doch die gesetzlich Versicherten haben bisher die ihnen seit Jahren eröffnete Möglichkeit kaum genutzt, sich ebenfalls wie privat Versicherte zu fühlen und sich schriftlich informieren zu lassen, was ihr Doktor alles in Rechnung stellt; weniger als ein Prozent wählten bislang diesen Weg.
Röslers und Bahrs Ministeriale wollen nun die Ärzte dafür gewinnen, ihren Patienten die private Abrechnungsmethode nahezubringen. Ärzte sollen nicht mehr schriftlich versichern müssen, daß sie den Patienten zuvor ausführlich informiert haben, was er von seiner GKV erstattet bekommt und was nicht. Auch soll der Patient sich nicht mehr für mindestens ein Jahr, sondern nur noch für drei Monate auf diese Abrechnungsmethode festlegen müssen. Derart will man ihn dazu einladen, einmal zum Schnuppern den Privatpatienten zu spielen. Noch gehen die neoliberalen »Reformer« im Gesundheitsministerium nicht so weit, daß sie allen GKV-Mitgliedern diese Art der Abrechnung vorschreiben, aber die generelle Einführung ist eindeutig das Ziel.
Davor kann man nur warnen: Die Mediziner werden mit dieser Methode schon aus Eigeninteresse dazu verleitet, zusätzliche Behandlungen und Medikamente zu verordnen, auch wenn diese gar nicht nötig sind; Hospitäler und Arztpraxen mit ihren teuren Apparaten müssen schließlich amortisiert werden. Die Rechnung ist dann auf jeden Fall vom Patienten termingerecht und in voller Höhe zu begleichen, ob die eigene Versicherung nun die Kosten übernehmen wird oder nicht. In der Regel wird der Versicherte in Vorlage gehen müssen, und nur selten wird er die tatsächlich berechneten Kosten in voller Höhe ersetzt bekommen.
Wer als kleiner Beamter und damit als Beihilfeberechtigter mit zusätzlicher privater Teil-Krankenversicherung Erfahrungen mit dem Abrechnungssystem als sogenannter Privatpatient gesammelt hat, wird schon wissen, was geschehen wird, falls das FDP-Ministerium mit seinen Plänen durchkommt und die circa 70 Millionen bisherigen Mitglieder der Gesetzlichen Krankenkassen in die Privatversicherungen locken und letztendlich wohl zwingen wird. Das Chaos ist vorprogrammiert. Allein das mühselige Einreichen der Arztrechnungen und der Einzelbelege würde viele – zumal von Krankheit Geschwächte – überfordern, unzählige Mahnungen bis hin zu Zwangsvollstreckungen wären die Folge.
Die ungeliebte Praxisgebühr zu streichen, ist zwar durchaus noch im Interesse der Ärzte, die sich bislang ständig in ihrem Praxisalltag mit Patienten herumärgern müssen, die selbst diese zehn Euro nicht zahlen können oder wollen. Aber der neue Plan, bald alle Mitglieder der Gesetzlichen Krankenkassen wie Privatpatienten zu behandeln und privat abrechnen zu lassen, wird nun auch von der Ärzteschaft nicht mehr durchgehend begrüßt, obwohl Rösler und Bahr unentwegt auf die vielen Vorteile für jeden Kassenarzt hinweisen und generell bessere Abrechnungs- und Einkommensmöglichkeiten in Aussicht stellen. Bei den Medizinern scheint die Furcht vor der wahrscheinlichen Flut zahlungsunwilliger oder zahlungsunfähiger Patienten gegenüber den Verheißungen lukrativer Behandlungsmöglichkeiten zu überwiegen. Und das ist eine Chance, die neoliberalen Konterreformer in ihren chaotischen Vorhaben noch zu stoppen. Doch eine durchsetzungsstarke Interessenvertretung aller bisher gesetzlich Versicherten ist kaum in Sicht, und die Aufklärungsarbeit der Oppositionsparteien im Bundestag läßt bisher zu wünschen übrig.