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DDR-Strafrecht unterm Bundesadler  (Friedrich Wolff)

Der Rechtsstaat hat gesprochen. Bis zum Jahr 2000, also rund zehn Jahre lang, hatten die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei zu tun, den Wunsch oder Auftrag des damaligen Justizministers Kinkel zu erfüllen, die DDR zu delegitimieren. Die veröffentlichten Entscheidungen der Landgerichte, des Bundesgerichtshofs, des Bundesverfassungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofs für Menschrechte füllten viele Seiten der Rechtszeitschriften und nahmen nicht geringen Raum in den Medien ein. Es waren alles Stimmen der einen Partei des Kalten Krieges. Die Stimmen ehemaliger DDR-Juristen waren in dem Chor kaum zu hören. Sie wurden von der bundesdeutschen Justiz nicht wahrgenommen. Vergeblich mahnte der wohl renommierteste BRD-Staatsrechtler Josef Isensee: »Es wird sich kein Grund ergeben für die Deutschen, die im sicheren Port des Westens gelebt haben, sich zum Zensor der ostdeutschen Vergangenheit aufzuwerfen.« Die altdeutsche Erkenntnis »Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede« galt nicht mehr. Jetzt galt: »Wer die DDR verteidigt, beleidigt die Opfer«. Eine neue rechtsstaatliche Erkenntnis.

Unter den Wenigen, die es wagten, gegen den Strom zu schwimmen, wie den Professoren Uwe-Jens Heuer, Hermann Klenner und einer Handvoll anderer, hat sich Erich Buchholz hervorgetan. Er ist auch als ehemaliger Professor für Strafrecht besonders kompetent. Er kennt die Geschichte des DDR-Strafrechts von seinem Beginn bis zu seinem Ende. Wer sonst noch kann das von sich behaupten?

Jetzt hat Erich Buchholz ein weiteres, wohl einzigartiges Werk veröffentlicht: »DDR-Strafrecht unterm Bundesadler«. Es behandelt auf 1008 Seiten die Bewältigung des Unrechtsstaates durch den Rechtsstaat. Das ist weniger Rechts- als politische Geschichte, und mit ihr beginnt das Buch. Der Autor sagt: Erklärtes Ziel der BRD »war es von Anfang an, eine demokratische Entwicklung ... in Ostdeutschland zu verhindern, die ›Soffjetzone‹ zu befreien ...« Diese bedrohte Ausgangssituation prägte die Strafgesetzgebung der DDR und die Rechtsprechung ihrer Gerichte in Strafsachen, aber auch auf anderen Rechtsgebieten. Die DDR wehrte sich. Buchholz behandelt sein Thema von diesen Wurzeln her, radikal.

Die ersten drei der insgesamt 13 Kapitel sind der politischen und der Rechtslage in den Jahren vor dem 3. Oktober 1990 gewidmet. Unvermutet kritisch sieht Buchholz, wie das DDR-Recht damals auf die sich ankündigenden politischen Veränderungen reagierte. So konstatiert er in einer Fußnote zur strafrechtlichen Problematik bezüglich der Strafverfolgung von »Republikflucht«: »Auch auf anderen Gebieten gab es verschiedene Erscheinungen, die mit den Prinzipien eines sozialistischen Staates und seiner Gesetzlichkeit nicht vereinbar waren.« Das zweite Kapitel trägt die Überschrift »Das Ende des DDR-Strafrechts«. Buchholz erkennt, daß die sozialistische DDR sich in ihrer Zwangslage zunehmend unsozialistisch verhielt. Das ist jedoch keine bestimmende Tendenz seines umfangreichen Werkes.

Mit dem vierten Kapitel beginnt, was der Autor im engeren Sinne über das DDR-Strafrecht unter dem Bundesadler zu sagen hat. Buchholz ruft in Erinnerung: »Kraft des 2. Staatsvertrages, des Einigungsvertrages, galt ab diesem Zeitpunkt (3. Oktober 1990; F. W.) auch im Beitrittsgebiet, in dem früheren Staatsgebiet der DDR nicht nur das Grundgesetz, sondern auch grundsätzlich nur bundesdeutsches Recht.« Der Autor fragt: »Mußte das so sein?« An Beispielen wie der Vereinigung mit dem Saarland zeigt er: So mußte es nicht sein, man hätte es auch anders machen können. Aber 1990 ging es darum, die Kommunisten und die Sozis auf Vordermann zu bringen. Was früher jenseits der Mauer zu bekämpfen war, siedelte jetzt im eigenen Land. Das war eine neue Situation, von der Öffentlichkeit wenig beachtet, um so mehr vom Staatsschutz.

Ab 3. Oktober 1990 galt also im »Beitrittsgebiet« Bundesrecht. Doch keine Regel ohne Ausnahmen. Durch die Anlage I des Einigungsvertrages wurde Artikel 315 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch geändert. Es wurde festgelegt: »Auf vor dem Wirksamwerden des Beitritts in der Deutschen Demokratischen Republik begangene Taten findet § 2 des Strafgesetzbuches ... Anwendung ...« In diesem § 2 heißt es im Absatz 1: »Die Strafe und ihre Nebenfolgen bestimmen sich nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt.« Das bedeutet, auf vor dem 3. 10. 1990 in der DDR begangene Straftaten findet das DDR-Strafrecht Anwendung. Klingt gut, verbirgt jedoch die Realität. Die Westrichter, die nach dem 3.10.1990 allein über Schuld oder Unschuld der Ossis entschieden, machten aus DDR-Recht BRD-Recht. Was ihnen an dem DDR-Gesetz nicht gefiel, nahmen sie nicht zur Kenntnis oder mißverstanden es. So existierte Artikel 1 des Strafgesetzbuches der DDR für sie nicht. Er trug die Überschrift »Schutz und Sicherung der sozialistischen Staatsordnung und der sozialistischen Gesellschaft«. Das war für BRD-Richter schlechthin unzumutbar, galt nicht. Die Strafverfolgung von 106.000 DDR-Bürgern erfolgte so unter der Vorspiegelung, alles werde nach DDR-Recht beurteilt, tatsächlich geschah es jedoch in westlicher Deutung. So wurde aus Unschuld Schuld.

Buchholz sagt: »War eine Tat nach DDR-Recht nicht strafbar, war also ein Strafverfolgungsanspruch (vor dem 3. Oktober 1990) nicht entstanden, dann ist es bundesdeutschen Justizbehörden verwehrt, sie zu verfolgen und zu bestrafen ...« Und: »Wenn bei der Beurteilung solcher Fälle (gemeint sind Strafverfahren gegen DDR-Funktionäre; F. W.) die Rechtsordnung der DDR in ihrer Gesamtheit, angefangen von ihrer Verfassung, zugrunde gelegt wird, dürfte bei einer ordnungsgemäßen Prüfung der Rechtslage eine Strafbarkeit derartiger Handlungen nicht bejaht werden.« Aber nach der Kinkel-Doktrin soll bestraft werden. Also sagt man DDR-Recht und spricht in Wahrheit Bundesrecht, Recht des Feindes der DDR. So wird der Unrechtsstaat vom Rechtsstaat be- oder überwältigt. Mit dem Etikett DDR-Recht wurde versucht, die DDR zu delegitimieren. Alles eine Frage der Auslegung.

Erich Buchholz behandelt danach die einzelnen Verfolgungskomplexe, in denen sich die Abrechnung mit der DDR vollzog. Sehr instruktiv. Nach mehr als 20 Jahren Medieninformation, die DDR-Grenzer hätten auf Flüchtende wie auf Hasen geschossen, Richter und Staatsanwälte hätten willkürlich geurteilt und so weiter, erkennt der Leser: Es war alles ganz anders. Die Wahrheit wurde entstellt. Hilflos wird dem Ossi bewußt: So haben sie es mit uns gemacht, so haben sie mit uns abgerechnet.

Das Werk behandelt alles, was auch nur im Entferntesten mit dieser Abrechnung zu tun hat. Da wird gezeigt, wie die Justiz mit den DDR-Hoheitsträgern verfuhr, anschließend folgen in den Kapiteln VII und VIII die Prozesse gegen die Grenztruppen, insgesamt über 250 Seiten. Danach werden die Verfahren gegen Staatsanwälte und Richter wegen Rechtsbeugung behandelt (192 Seiten), die Wahlfälschungs- und andere Verfahren (zum Beispiel Doping). Die Rächer der Staatsanwaltschaft ließen nichts aus, Buchholz aber auch nicht.

Das Kapitel XI behandelt das Verbot, nach Gesetzen zu urteilen, die zur Zeit der Tat nicht galten (Rückwirkungsverbot). Vielleicht wäre es gut gewesen, dabei zu erwähnen, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Auffassung des BVerfG nicht teilt. Das höchste deutsche Gericht sprach: »In dieser ganz besonderen Situation untersagt das Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnimmt, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG (das Rückwirkungsverbot; F. W.) muß dann zurücktreten. Anderenfalls würde die Strafrechtspflege der Bundesrepublik zu ihren rechtsstaatlichen Prämissen in Widerspruch geraten.« Das war dem EGHMR zu kühn. Das Rückwirkungsverbot gehört zu den unangreifbaren Prinzipien des Strafrechts und der Menschenrechte. Daher konnte der EGHMR die Auslegung der deutschen Gerichte nicht billigen. Das Ergebnis mußte aber dasselbe bleiben. Also beschloß das hohe Gericht, die Schüsse der Grenzer seien schon in der DDR verboten gewesen, das Rückwirkungsverbot komme also ohnehin nicht zu Anwendung. Deutsche Gerichte vom Landgericht über den Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht hatten das verkannt. Alles eine Frage der Auslegung.

Kapitel XII behandelt die rechtswidrige Aushebelung der Verjährungsregelungen. Im Kapitel XIII, »Der Befund«, bilanziert Buchholz: »Nicht aus Unfähigkeit oder aus Versehen oder wegen Mißverstehens einzelner rechtlicher Regelungen – also nicht aufgrund gewöhnlicher ›lässiger‹ Rechtsfehler – wurden im Rahmen politischer Strafverfolgung gesetzwidrige Verurteilungen von DDR-Hoheitsträgern contra legem scriptam (gegen geschriebenes Gesetz; F. W.) ausgesprochen, sondern aus politischem Kalkül, gemäß einem politischen Auftrag, gemäß einem politischen Interesse der maßgeblichen Kräfte der BRD.«

Insgesamt hat Erich Buchholz ein außerordentliches, einzigartiges Werk vorgelegt. Es bleibt jedoch in unserer offenen Gesellschaft echolos. Etwas geschuldet ist dies auch seinem Umfang und infolgedessen seinem Preis. Vielleicht können sich Autor und Verlag bei einer neuen Auflage zu Kürzungen entscheiden. Dem Buch ist jedenfalls eine große Verbreitung zu wünschen.

Erich Buchholz: »DDR-Strafrecht unterm Bundesadler«, Kai Homilius Verlag, 1008 Seiten, 149 €