Slawischen Menschen war im Nazi-Reich Tod durch Erschießen, Verhungern oder Vernichtung durch Arbeit beim Aufbau des germanischen Weltreichs zugedacht. Chefplaner solcher Konzepte war Professor Konrad Meyer, SS-Oberführer und Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sein »Generalplan Ost«, verfaßt im Auftrage des SS-Reichsführers Heinrich Himmler, sah die Vernichtung von 30 bis 50 Millionen slawischer Menschen zum Nutzen Deutschlands vor, wobei die jüdische Bevölkerung schon als eliminiert und daher nicht mehr planungsrelevant galt. 1956 kehrte Meyer in den universitären Alltag zurück und lehrte an der Technischen Universität Hannover Hochschüler (auch mich) das Fach Raumplanung.
Mit Schreiben vom 15. Dezember 1969 dankte Meyer seinem alten Planungsmitarbeiter Heinrich Wiepking, einst Sonderbeauftragter Himmlers für Fragen der Landschaftsgestaltung in den eingegliederten Ostgebieten, später Gründer der Fakultät für Gartenbau und Landeskultur in Hannover, für seine zur Emeritierung gespendeten Dankesworte, mit denen ihm »noch einmal unsere schöne gemeinsame Zeit in Berlin lebendig geworden« sei. Er scheide aus dem Dienst der Hochschule »in der festen Zuversicht, daß unsere Jungen – soweit sie echte Kerle und rechtwinklig an Leib und Seele sind – doch einmal wieder den Anschluß an unsere Wegrichtung finden und damit die Kontinuität des Wollens wahren werden.« Rechtwinklig, nämlich in der Form des Hakenkreuzes, hatte Wiepking in den späten 1940er Jahren die Fakultätsgebäude in Hannover-Herrenhausen bauen lassen.
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Zu den Lagern, in denen zigtausende sowjetische Kriegsgefangene verhungerten, gehören Stukenbrock im heutigen Bundesland Nordrhein-Westfalen und Sandbostel in Niedersachsen. Da viele Tote nicht registriert oder die Register später vernichtet wurden, weiß niemand genau, wie viele Menschen hier ermordet wurden. Angesichts des staatlichen Wollens, sie alle umzubringen, verbietet sich jeder Streit um einige tote »Untermenschen« mehr oder weniger. Den Nazi-Ideologen galt jeder Tote mehr als eine Bedrohung weniger für das »Deutsche Blut«. Doch bis in die Gegenwart wird in Sandbostel um Zahlen gestritten, und über die Gestaltung der Gedenkstätten ist immer noch nicht endgültig entschieden.
In Stukenbrock wurde 1945 nach Plänen von Gefangenen binnen vier Wochen nach der Befreiung ein Ehrenmal errichtet und am 2. Mai 1945 von 10.000 Menschen feierlich eingeweiht. Doch 1956, in der Hochzeit des Kalten Krieges, wurden die Sowjetsterne und die rote Fahne, die das Ehrenmal krönten, entfernt und durch das orthodoxe Kreuz ersetzt. Die Schandtat provozierte Widerspruch bei ehemaligen Gefangenen und bei offiziellen Stellen der Sowjetunion. Die Sterne kamen zurück. Das Kreuz blieb. Erst im Jahre 2006 beschloß die nordrhein-westfälische Landesregierung auf Antrag des 1984 gegründeten »Arbeitskreises Blumen für Stukenbrock« e.V. endlich die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes des Ehrenmals.
Aber die Bezirksregierung Detmold torpedierte den Beschluß und setzte ihn bis heute nicht um. Die neue Landesregierung teilte dem Arbeitskreis Anfang März 2011 mit, daß die »alsbaldige Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes des Obelisken entsprechend den Absprachen vom 28. Juli 2006 in die Wege geleitet ist«. Doch neben dem Arbeitskreis gibt es den 1993 gegründeten »Förderverein Dokumentationsstätte Stalag 326 (VI K) Senne« e.V., der sich inzwischen gegen den Ursprungszustand ausgesprochen hat. Jetzt hat sich Bundeskanzlerin Merkel eingeschaltet.
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In Sandbostel fand am 29. April 2011 die Festveranstaltung zum 66. Jahrestag der Befreiung statt. Auf dem nahe gelegenen Lagerfriedhof, der als »Kriegsgräberstätte« ausgeschildert ist, so als ruhten hier Tote, die nach Haager Abkommen und Genfer Konvention eine Überlebenschance gehabt hätten, fand die Auftaktveranstaltung statt. Vor der Kranzniederlegung wurden ausschließlich orthodoxe rituelle Gesänge geboten.
Vom ehemaligen sowjetischen Ehrenmal sind hier nur vier Stelen geblieben, auf denen zu lesen ist: »Euer Opfer – Unsere Verpflichtung – Frieden«. Das Ehrenmal wurde 1956 vom Land Niedersachsen gesprengt. Es trug die Inschrift: »Hier ruhen 46.000 russische Soldaten und Offiziere, zu Tode gequält in der Nazigefangenschaft.« Und ein Sowjetstern bekrönte das Ehrenmal.
Die Angriffe richteten sich vordergründig gegen die aufgeführte Zahl der Opfer. Ein Bürger äußerte in seinem Antrag, das Ehrenmal abzureißen, die Sorge, daß die Inschrift »leicht ein Todesurteil für die Einwohner des Kreises Bremervörde bedeuten kann, wenn eines Tages die Russen hier vorbeikommen sollten. Unser Einwand, dass nicht 62.000 (sic!), sondern 4.000 Mann leider umgekommen sind, dürfte dann wenig Glauben finden«.
Um festzustellen (sic!), »daß die Inschrift des Denkmals … unrichtige Angaben enthält«, setzte der Kreistag 1949/50 eine Untersuchungskommission ein, die durch Befragung eines in der Sache befangenen Personenkreises eine Opferzahl von »8.000, höchstens 8.500« ermittelte.
Da »der Russe die Inschrift nicht abändern« werde, beantragte die Kommission, vor dem Friedhof einen zweiten Gedenkstein aufzustellen. Seine Inschrift sollte lauten: »Der Wahrheit die Ehre. Wanderer, betrittst Du diesen Friedhof, erblickst Du ein russisches Denkmal mit der Inschrift, daß hier 46.000 Russen ruhen. Diese Inschrift entspricht nicht der Wahrheit. Amtliche Feststellungen haben ergeben, daß auf diesem Friedhof 8.765 Tote bestattet wurden. In diese Zahl sind sämtliche an Seuchen und anderen Krankheiten Gestorbenen aller Nationen einbegriffen. Landkreis Bremervörde«
Der Kreistag stimmte diesem Antrag im März 1951 zu und erteilte der Kommission den weiteren Prüfauftrag, zwecks Finanzierung einen »Sammelsonntag« unter dem Motto »Der Wahrheit die Ehre« zu konzipieren. Es gelte zu zeigen, daß der Deutsche »sein Selbstbewußtsein wiedergefunden« habe.
Ein Mitglied des Ausschusses wurde bei der Begründung des Antrags noch deutlicher: »… gerade in der heutigen Zeit (müsse) der Deutsche sich bemühen …, seine Würde zurückzugewinnen ... der Kreistag ist jetzt verpflichtet, einen solchen Stein aufzustellen und der Wahrheit die Ehre zu geben. Das soll der Anfang sein, um der Welt zu zeigen: ›Wir sind gleichberechtigt‹.« Nachzulesen im Protokoll der Kreistagssitzung vom 29.6.51.
Der Stein wurde nicht aufgestellt. Rückwirkend zum 1. April 1951 verlor der Landkreis durch bundesrechtliche Regelung seine Zuständigkeit an das Land, das fünf Jahre später einfach Sprengstoff verwendete, um die immer wieder angegriffene Opferzahl und damit zugleich das Ehrenmal zu zerstören.
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Nach der Auftaktveranstaltung auf dem Lagerfriedhof wird am 29. April 2011 die eigentliche Festveranstaltung im ehemaligen Küchenbau auf dem Lagergelände zelebriert. Bei schlechter Akustik vernehme ich in einem Beitrag von Schülern des Gymnasiums Harsefeld die Zahl von rund 7.000 verstorbenen Sowjets. Als Berater der Schüler fungiert unter anderen der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der die »Kriegsgräberstätte Sandbostel, Ausländerfriedhof« unterhält und im Internet die Zahl der hier ruhenden Sowjets mit »ca. 7.300« angibt.
Der Eklat ereignet sich in der Vorhalle des Küchenbaus. Ein Paar mittleren Alters hat sich am Rande des Zustroms der vom Friedhof einkehrenden Besucher mit A3-großen Plakaten postiert. Auf dem einen die Mahnung: »Damals wie heute kommt es darauf an, gegen Faschismus, Rassismus und Krieg klar Position zu beziehen.« Auf dem anderen die Forderung: »Für eine authentische Wiederherstellung des Denkmals der sowjetischen Kriegsgefangenen in Sandbostel«.
Keiner nimmt erkennbaren Anstoß; keiner äußert hörbaren Protest. Erst als der Stiftungsvorsitzende Karl-Heinz Buck als Verantwortlicher für die Festveranstaltung unter Nutzung seines Hausrechts die Demonstranten zum Verlassen nicht nur des Gebäudes, sondern des gesamten Lagergeländes auffordert, entsteht merkliche Hektik und störende Unruhe. Als die Demonstranten nach dem Grund des Verweises fragen, bittet Buck die Polizei, die Demonstranten fortzuführen. So geschieht es.
Ich fand die Demonstration eher belebend und dem Stiftungsziel förderlich, was ich dem Stiftungsvorsitzenden einige Tage später mit der Bitte vortrug, er möge sich für sein unverhältnismäßiges und damit störendes Handeln schämen und sich mindestens bei den ausländischen Gästen hierfür entschuldigen. Die Antwort kam prompt: »…Ein Wiederaufbau des Denkmals war nie Gegenstand
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Beide, Opfer wie Täter
Im Kulturradio des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) höre ich den Redakteur Eckhard Stuff ein neues Buch über die Blockade Leningrads besprechen. Auf die Frage, wer denn an den Hunderttausenden Hungertoten schuld sei, antwortet stets zuverlässig rechtwinklige Journalist prompt: »Beide«, nämlich Hitler und Stalin.
Die Antwort paßt immer. Dann gibt es auch keine weiteren Fragen mehr.
Es empfiehlt sich, eine gewisse Mitschuld Hitlers zuzugeben, dann kann man, ohne sich den Vorwurf der Einseitigkeit zuzuziehen, den sowjetischen Verantwortlichen sogar irgendwie die Hauptschuld daran zuweisen, daß Nazi-Deutschland die slawischen Staaten überfallen mußte, um deren Bevölkerung planmäßig auszurotten, damit das deutsche »Volk ohne Raum« dort Platz finde.
Der Verlag Hentrich + Hentrich, der schon Besseres auf den Büchermarkt gebracht hat, trug zur Rechtwinklisierung der Geschichte folgenden Titel bei: »Rote Fahnen über Potsdam 1933–1989«. Denn auch die Braunen hatten rote Fahnen. Das beweist: Beide sind schuld. Unsere Vorfahren allerdings bitteschön nicht so sehr wie die anderen, denn die Nazi-Fahnen waren nicht ganz und gar rot, sondern auch schwarz und weiß. Und zackig.
E. S.
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irgendeiner Sitzung ... Wenn diese Leute möchten, daß das Denkmal wieder errichtet wird, warum kümmern sie sich denn nicht selber darum? Warum sollen denn immer andere etwas machen? Und meine persönliche Meinung ist, daß man die Lage der tatsächlichen Massengräber wieder herstellt, bevor ein Denkmal errichtet wird, welches möglicherweise gar nicht an die umgekommen Soldaten erinnern soll. Es ist allgemein bekannt, daß die kriegsgefangenen Sowjetsoldaten von ihrer Führung als »Verräter« angesehen wurden, und das dürfte ja wohl dann auch für die in Kriegsgefangenschaft (sic!) umgekommen (sic!) Soldaten gelten. Es wäre doch ein ungewöhnlicher Vorgang, für ›Verräter‹ ein Denkmal zu errichten. Das wäre in der Weltgeschichte wahrscheinlich einzigartig. Wäre ein Wiederaufbau dann nicht sogar eine Beleidung (sic!) oder Demütigung für die noch lebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen? Und für die Angehörigen von den Toten?«
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In ihrem Buch »Stalag X B Sandbostel« (4. Aufl. 2010) belegen die Autoren Werner Borgsen und Klaus Volland die Plausibilität der in der Inschrift des zerstörten Ehrenmals enthaltenen Opferzahl. Sie stellen Aussagen von Opferseite in ihre Betrachtung ein und ziehen amtliche Unterlagen hinzu.
Aber wie dem auch sei: Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Niedersachsen, der Landkreis Rotenburg (Wümme), die Samtgemeinde Selsingen mit der Gemeinde Sandbostel, sie alle sind aufgerufen, zu beherzigen, was Christoph Dette zu dieser Frage 1990 in seiner Arbeit über »Das Kriegsende in der heutigen Samtgemeinde Selsingen« formulierte: »Wer Zahlen moralische Kraft zuspricht, insofern sie, je niedriger sie sind, den Täter desto mehr entlasten, die Schwere der Tat verringern, ermordet einen Teil der Opfer ein zweites Mal, indem er ihre Existenz ganz einfach bezweifelt, so als habe es sie nie gegeben.«
Auch die Sprengung des sowjetischen Ehrenmals auf dem Friedhof des Stalag X B Sandbostel ist ein fortdauerndes Verbrechen, begangen von staatlichen Stellen der Bundesrepublik Deutschland zur Hochzeit des Kalten Krieges. Er ist nicht aus der Welt zu schaffen, aber seine Fortdauer ist behebbar. Mit dem derzeitigen Stiftungsvorsitzenden dürfte dies aber wohl kaum gelingen. Der Holocaust-Überlebende und streitbare Kämpfer für einen würdevollen Umgang mit der Sandbosteler Lagergeschichte, Ivar Buterfas, fordert daher wohl zu Recht den Rücktritt des Vorsitzenden, »damit die Gedenkstätte keinen Schaden nimmt«. Die Demonstranten seien »für eine absolut berechtigte Sache« eingetreten.