Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht – mir geht’s jedenfalls so: Je mehr Jahresringe sich in den faltigen Hals graben, desto mehr Anhaltspunkte braucht man, um den Überblick über den dahinbrausenden Jahresverlauf zu behalten.
Im zarten Kindesalter kam ich noch gut zurecht, denn da konnte ich mich an den kirchlichen Feiertagen festhalten. Das Ostereiersuchfest, der Himmelfahrtsausflug, von dem mein Vater recht fröhlich und nicht immer aufrecht zurückkehrte, der Reformationsbrötchentag, Allerheiligen, Allerseelen, das Martinsgansessen, der Weihnachtskarpfen und der soundsovielte Sonntag nach Trinitatis, den unser Pfarrer immer wieder erklärte und abfragte. Das prägte sich ein.
Die kirchlichen Gebräuchen weniger verbundenen Bürger – bei uns im Hause wohnte einer im 2. Stock – hielten sich an den Internationalen Frauentag oder den anrührenden Muttertag, den Siebenschläfer, die Eisheiligen und den Weltspartag und was das Jahr noch so an markanten Kalendereinschnitten zu bieten hatte.
Im ehemaligen Mittelalter und in der ehemaligen DDR gab es wieder andere Höhepunkte, die es einem leichter machten, über das Jahr zu kommen. Aber lassen wir mal aus Zeit- und Papiergründen das aufwendige Mittelalter beiseite und beschränken wir uns auf die DDR-Diktatur.
Da hatte fast jeder Berufsstand seinen von ganz weit oben verordneten Ehrentag, und da es bekanntlich mehr Professionen gibt als Kalendertage, fielen manche sogar auf- und übereinander. So konkurrierte der »Tag des Lehrers« mit dem des Eisenbahners – Eisenbahnen fuhren ja damals noch – , und der »Tag des Aktivisten« fiel mit dem Wiegenfest meiner Mutter zusammen. Das verwunderte mich nicht, wurden doch am 13. Oktober eh die Besten geehrt.
Schwerer zu behalten waren dagegen solche Events wie der »Tag der Werktätigen der kommunalwirtschaftlichen Dienstleistungen« oder so ähnlich und andere den sozialistischen Beschäftigten aufgezwungene Heldengedenktage.
Im Zuge der demokratischen Überwindung solcher Auswüchse des menschenverachtenden Systems sind wir in der neuen deutschen Gesamtbundesländerrepublik dazu übergegangen, die Nacht zum Tage zu machen.
Jetzt gibt es in Berlin die »Lange Nacht der Opern und Theater«, der beispielsweise im April 2011 in der Bundeshauptstadt 20.000 Schau- und Hörlustige zum Opfer fielen, wie renommierte Institutionen zu berichten wußten.
Darüber hinaus etablierten sich die »Lange Nacht der Museen«, die »Lange Nacht der Galerien«, die »Lange Nacht der Supermärkte«, die »Lange Nacht der Bilder«, und zu meinem Erstaunen wurde uns nunmehr die »Lange Nacht der Familien« angedroht. Ich begrüße diesen Zugang und setze voraus, daß eine gründliche Abwägung aller sozialen Umstände sowie der physiologischen und pädagogischen Risiken stattgefunden hat.
Nach meiner unvollkommenen Übersicht gibt es jedoch noch einige nichtfrequentierte Nächte, die durch kreative Vorschläge aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerkreisen mit aufgewecktem Leben bereichert werden könnten.
An einem Berliner Hotel in der Nähe des Ostbahnhofs wurde sogar eine »Lange Nacht der Wohnheime« plakatiert. Das hat mich, ehrlich gesagt, etwas verwundert, denn in Wohnheimen habe ich als ehemaliger Insasse und späterer pädagogischer Leiter nichts anderes als lange Nächte kennengelernt.
Für die Walpurgis-Nacht böte sich nach meinem unmaßgeblichen Empfinden eine »Lange Nacht der Frauenrechtlerinnen« an, für die Alice Schwarzer als Besen-Schirmherrin gewonnen werden sollte.
Der 1. Mai würde sich für eine »Lange Nacht der Bullen« eignen, der Buß- und Bettag für die »Lange Nacht der Gerichtsvollzieher«. Auch eine »Lange Nacht der Insolvenzen« fände genügend Zielpersonen.
Die »Lange Nacht der Obdachlosen« dagegen scheint entbehrlich, da sie von der Realität längst eingeholt wurde. Auch eine »Lange Nacht der Bordsteinschwalben« wäre kaum innovativ. Eine »Lange Nacht des Aufsichtspersonals auf den Berliner U- und S-Bahnhöfen« käme aus Personalgründen vorerst nicht in Frage, dagegen sind die Chancen für eine »Lange Nacht der Bahnsteigschläger« deutlich gewachsen.
Falls ihnen weitere Vorschläge auf oder unter der Haut brennen, zögern Sie nicht! Machen Sie von Ihrem Bürgerrecht Gebrauch und tragen Sie kreativ dazu bei, unsere demokratischen Nächte noch bunter und freiheitlicher zu gestalten!