20. Mai 2012 in Chicago: 15.000 meist junge Menschen ziehen in einer beeindruckenden, jungen, bunten, erfrischend vielfältigen Demonstration friedlich durch die Stadt, um gegen den zeitgleich stattfindenden NATO-Gipfel zu protestieren. Mehr als 150 US-amerikanische Organisationen haben zu dieser Demonstration aufgerufen, die von der Coalition against NATO and the G8 War and Poverty Agenda (CANG8) organisiert wurde. An den beiden vorangegangenen Tagen fand hier bereits der internationale Gegengipfel (Counter-Summit for Peace & Economic Justice) mit mehr als 300 TeilnehmerInnen statt, vorbereitet von dem Bündnis NATO free future. Träger waren diverse Organisationen der US-Friedensbewegung wie Peace Action und Peace Council. Vorangegangen war am Wochenende zuvor ein Peoples summit mit rund 500 TeilnehmerInnen, initiiert von der entschieden linken CANG8 und Occupy Chicago. Schwerpunkt-Thema war – mit vielen Anti-NATO-Bezügen – die Ablehnung des nach Camp David ausgelagerten G8-Gipfels. Die Diskussionen auf beiden Gegen-Gipfeln überschnitten sich, aber ergänzten sich auch; auf dem zweiten waren sie vor allem durch antikapitalistische Kritik am Militarismus und an der neoliberalen Weltökonomie geprägt. Und während der ganzen Woche zwischen den »Gipfeln« erlebte Chicago vielfältige Aktionen der Friedensbewegung einschließlich Demonstrationen des zivilen Ungehorsams
Einig war man sich in der Ablehnung der US-amerikanischen Kriege, besonders des Krieges in Afghanistan, und der ungeheuren Rüstungsausgaben der USA und der NATO. Immer wieder fiel die Zahl von fast einer Billion Dollar: So viel geben Washington und das nordatlantische Bündnis jedes Jahr für die Rüstung aus. »Stopp the wars, cut the budget, no intervention«, diese Forderungen schallten durch Chicago, und sie verbanden sich mit der generellen Infragestellung der NATO als Interventions- und Kriegsbündnis mit weltweiten Ansprüchen. Die Forderung nach Auflösung der NATO erwies sich als konsensfähig. Hinzu kam eine generelle Absage an den täglichen Militarismus, besonders in den USA, und an eine Politik, die der großen Mehrheit der Bevölkerung die Lasten der ökonomischen Krise aufbürdet. So erklärt sich auch, daß sich an den Aktionen viele Betroffene der Krisenabwälzungsstrategie Obamas beteiligten – von Krankenschwestern über entlassene LehrerInnen bis zu den auf zwei oder drei miserabel bezahlte Jobs angewiesenen Latinos oder Schwarzen.
Einer der Höhepunkte des Protestes war die Rückgabe von Kriegsorden durch rund 100 Veteranen. Die in der Organisation »Veterans for Peace« zusammengeschlossenen ehemaligen Armeeangehörigen sind ein aktiver Teil der US-amerikanischen Friedensbewegung. Die Rückgabe ihrer Orden ist in einem Land, in dem das Militär in hohem Ansehen steht und die Militärangehörigen zu den verehrten Eliten gehören, eine Demonstration des Mutes und der Zivilcourage. Sie fand große Aufmerksamkeit, auch in den Medien. Hier drückte sich die tiefe Enttäuschung und Zunahme des Protestes in breiteren Bevölkerungskreisen der USA aus. Das System des US-Militarismus ist durch die ökonomische Krise und die erkennbar völkerrechtswidrigen Kriege an eine Legitimitäts- und Akzeptanzgrenze gelangt. Hier brechen Fundamente weg, die die politische Klasse der USA besonders nach dem 11. September 2001 mit einer machtvollen ideologischen und politischen Offensive errichtet hatte (auch um das Vietnam-Desaster endlich vergessen zu machen).
Die US-amerikanische Friedens- und Antikriegsbewegung hat sich mit beeindruckenden Aktionen zu Wort gemeldet. Alle Veranstaltungen waren international vernetzt. Besonders das weltweite Netzwerk »No to War – no to NATO«, das maßgeblich an den Protesten gegen die NATO-Gipfel in Straßburg und Lissabon beteiligt war, spielte eine aktive Rolle als Partner und Mitdiskutant.
Mir fielen die Reaktionen der Medien auf. Die lange totgeschwiegene Friedensbewegung war mit Bildern und Artikeln in allen tonangebenden Medien des Landes vertreten. Kein Fernsehsender (inklusive Murdochs fox news), keine der großen Radiostationen oder der zentralen Zeitungen (einschließlich New York Times) unterließ es, über die Protestaktionen zu berichten. Nicht Sympathie und Unterstützung, durchaus aber Verständnis prägte die ausführliche Berichterstattung. Die vor dem Gipfel oft beschworenen Gewaltexzesse waren kein Thema mehr. Dennoch blieb eine martialisch aufgerüstete und auftretende Polizei- und Militärpräsenz, die offenbar zum Alltag von NATO-Gipfeln gehört. Willkürliche Verhaftungen fanden nur geringe Beachtung. Die Medien mußten über das reale Anliegen der Demonstranten berichten, sie konnten es nicht mehr ignorieren.
Es waren die größten Aktionen in den USA gegen die NATO, die es je gegeben hat. An den Protestaktionen gegen den NATO-Gipfel 1999 in Washington hatten sich gerade einmal 200 Menschen beteiligt – trotz intensiver Vorbereitung. Der große Sprung, der der US-Friedens- und Antikriegsbewegung diesmal gelang, wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, daß sich der nationale Dachverband der US-Friedensbewegung, die Koalition United for Peace and Justice (zu Zeiten des Kriegs in Irak aus mehr als 1500 Organisationen und Initiativen bestehend), nach Obamas Wahlsieg 2010 auch aufgrund ausbleibender Spenden und Unterstützung auflösen mußte. Die Spendeneinnahmen anderer großer US-Friedensorganisationen wie der Peace Action oder der Quäker (American Friends Service Committee) brachen um bis zu 80 Prozent ein. Das war fast ein Todesstoß für eine aktive Antikriegspolitik.
Die beeindruckende neue Aktionsbilanz sollte uns aber nicht über erkennbare Schwächen und Probleme der US-Friedensbewegung hinwegsehen lassen. Meine Einschätzung basiert auf vielen Diskussionen mit Aktiven aus allen Lagern.
Erstens: Die US-Friedensbewegung ist tief gespalten und kaum zu einheitlichen Aktionen fähig. So wurden die beiden Gegengipfel von je einem Teil der Bewegung organisiert, und selbst zu der großen Demonstration riefen nicht alle großen Friedensorganisationen landesweit auf. Peace Action, American Friends Service Committee und auch das KP-nahe Peace Council blieben abseits. Nur ihre lokale Gruppierungen unterstützten die Aktionen. Es fehlt an Kooperation. Man trägt alte Konflikte teilweise noch aus der Zeit der Anti-Vietnam-Proteste monströs vor sich her. Internationale Gäste geraten da schnell in die Rolle von Mediatoren. Zweitens: Es gibt kaum gemeinsame Diskussionen und demzufolge auch keine gemeinsamen Einschätzungen, ja nicht einmal streitbaren Austausch über die aktuelle politische Lage, besonders über die Rolle von Präsident Obama und über dessen Wiederwahl. Sektierertum und Opportunismus spielen sich in die Hände. Das undemokratische Zwei- (besser Ein-)Parteiensystem wirft lange Schatten und verbreitet nach wie vor Illusionen. Drittens: Die Vielzahl unterschiedlicher Kampagnen, die alle berechtigt sind, verhindert die notwendige Konzentration auf wenige die Öffentlichkeit und die einzelnen Menschen mitnehmende Aktionskonzepte. Nicht einmal auf eine einheitliche Kampagne zur Kürzung des Militärhaushaltes konnte man sich einigen. Viertens: Ein starker US-Bezug aller Aktionen erschwert ein internationales Politikverständnis, das die Veränderungen der Welt in den letzten Jahren adäquat berücksichtigt. Die Kenntnis beispielsweise von Europa und seiner Militarisierung ist nahe bei Null. Das entspricht einem Hegemonieanspruch US-amerikanischer Organisationen in Bündnissen (»Wir sind ja doch der Nabel der Welt«), der sich vor allem negativ auf Initiativen aus dem globalen Süden, aber auch aus Europa auswirkt.
Diese kritischen Anmerkungen sollen die Grundlage für weitere erfolgreiche Aktionen sein. Eine weltweite Antikriegsbewegung ist notwendig und möglich, die Delegitimierung der NATO muß fortgesetzt werden.
Reiner Braun ist Geschäftsführer der Internationalen Juristenvereinigung gegen Atomwaffen (IALANA) und Mitglied im internationalen Koordinierungsgremium des Netzwerkes »No to War – No to NATO«