Daß uns Demonstrationsrechte nicht gewährt werden, sondern daß wir sie immer neu erkämpfen müssen, ist eine alte Erkenntnis. Staatliche Versuche, Protest zu diskreditieren, ihn als gewalttätig und darum gefährlich für die öffentliche Ordnung darzustellen, sind auch nichts Neues. Im Brokdorf-Beschluß setzte deshalb 1985 das Bundesverfassungsgericht Maßstäbe für den staatlichen Umgang mit diesen Grund- und Menschenrechten: Versammlungs- und Meinungsfreiheit sind »unentbehrliche und grundlegende Funktionselemente eines demokratischen Gemeinwesens«. Die Karlsruher Richter führten aus, Versammlungen enthielten »ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demo-kratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren«.
Demonstrationen anderswo – wie im »arabischen Frühling« – werden hier gern gefeiert, Polizeimaßnahmen gegen Demonstrierende dort angeklagt. Das Umstürzlerische und Revolutionäre, das in Versammlungen potentiell liegt, soll sich gegen »undemokratische« Staaten wenden. Daß aber auch unser »Rechtsstaat« grundlegender Kritik, bürgerlichen Aufstands und demokratischen Drucks bedarf, wird von Politikern gern geleugnet. Kritik soll sich auf die staatlich vorgesehenen Prozesse und Strukturen reduzieren lassen. Weil Versammlungen immer – mal mehr, mal weniger – das Potential haben, ein »Wir« gegen den Staat und für Demokratie zu organisieren, werden sie von den Herrschenden so gefürchtet (s. Miguel Abensour: »Demokratie gegen den Staat«).
Ein besonders krasses Beispiel für die Außerkraftsetzung der Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit hat sich im Mai 2012 in Frankfurt am Main ereignet. Die Stadt verbot im Zeitraum vom 16. bis 19. Mai alle Kundgebungen, Mahnwachen und Demonstrationen des Blockupy-Bündnisses gegen die europäische Krisenpolitik und die Verarmung breiter Bevölkerungsgruppen in der Europäischen Union. Kritik an den Banken, Versuche, deren Macht verbal und symbolisch anzugreifen, erschienen der Politik zu heikel. Damit nicht genug. Weil potentielle TeilnehmerInnen an diesen Protesten sich auch an anderen Demonstrationen hätten beteiligen können, wurden gleich alle Versammlungen in der Stadt verboten. Von Mittwoch bis Samstagabend sollte Ruhe herrschen in der Bankenstadt.
Das Verwaltungsgericht ließ nur die geplante Großdemonstration am Samstag unter einer langen Liste von Auflagen zu. All die anderen Verbote von Versammlungen des Blockupy-Bündnisses wurden vom Bundesverfassungsgericht in einer Eilentscheidung bestätigt. Die vom Komitee für Grundrecht und Demokratie angekündigte Versammlung für das uneingeschränkte Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, eine Gedenkveranstaltung der Jusos wie auch die Kundgebung der Ordensleute gegen Bankenmacht, die beide eine lange Tradition in Frankfurt haben, wurden von der Stadt ebenfalls verboten.
Die Stadtverwaltung argumentierte vor allem mit einer selbst gezimmerten, völlig überdimensionierten Gefahrenprognose, die sie öffentlichkeitswirksam verbreitete: Massen von Menschen seien zu erwarten, die die Stadt lahmlegen wollten und unter die sich erhebliche Anteile »gewaltbereiter« Gruppen mischen würden. Der Alltag der Käufer und Käuferinnen, die Interessen der Geschäftsleute an ungehindertem Gewinnstreben und die Arbeit der Banken würden durch diese Proteste gestört – das könne die Stadt nicht zulassen.
Alle diese berechtigten Interessen können jedoch eine Aushebelung von Grundrechten nicht legitimieren. Darum wurde auch – wie üblich – ein Horror-Szenario von zu erwartenden Gewalttaten ausgemalt. Ereignisse am Rande einer Demonstration vom 31. März 2011 erleichterten das. Aber die Berichte über diese Ereignisse waren mal wieder von der polizeilichen Perspektive dominiert. Damals waren Farbbeutel auf die Europäische Zentralbank geflogen und Fenster eingeworfen worden. Andere Ereignisse jenes Tages wären nicht weniger berichtenswert gewesen: Die Polizei trennte einen ganzen Teil des damaligen Demonstrationszuges ab. Hunderte von Demonstrierenden, die nichts mit den Farbbeutelwürfen zu tun hatten, wurden über viele Stunden eingekesselt, ihrer Freiheit beraubt. Die Rechte von Minderjährigen wurden systematisch verletzt (s. auch: ea-frankfurt.org/).
Das Verfassungsgericht hatte jedoch im Brokdorf-Beschluß 1985 herausgestellt, daß einzelne Anlässe und Gewaltvorfälle nicht zum Anlaß genommen werden dürfen, eine ganze Demonstration aufzulösen. Selbst »wenn mit Ausschreitungen durch einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist«, bleibe der »garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit erhalten«. Selbstverständlich müßten vor einem Versammlungsverbot konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorliegen, Vermutungen und Befürchtungen reichten nicht aus. Die Stadt Frankfurt aber hat nun vorgemacht, wie auch der Rechtsschutz kurzfristig ausgehebelt werden kann. Selbst das Verfassungsgericht knickt immer wieder vor polizeilichen Horrorszenarien ein, die es in einer Eil-entscheidung nicht überprüfen kann.
Diesen schlechten Nachrichten von einem Staat, der Grundrechte und Demokratie gefährdet, stehen die Bürger und Bürgerinnen mit ihrem demokratischen Wissen und ihren Erfahrungen gegenüber.
Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts haben die Bürger und Bürgerinnen eine Menge darüber gelernt, wie sie ihre Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit wahrnehmen können. Der Protest ist bunt und kreativ, zugleich hartnäckig und taktisch klug geworden.
So waren an diesen Tagen Mitte Mai überall in Frankfurt Bürger und Bürgerinnen unterwegs, um ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in die eigenen Hände zu nehmen. »Das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln« gilt, wie schon das Bundesverfassungsgericht 1985 erkannte, seit jeher als Zeichen der Freiheit, der Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers.
Die Verbote der Stadt ließen befürchten, daß sich viele potentielle TeilnehmerInnen an den Protesten abschrecken lassen würden. Ja, daß gerade die friedliebenden Menschen, die Familien, die gutbürgerlichen BürgerInnen angesichts der ausgemalten Schrecken zu Hause bleiben würden. Das ist einerseits eine alte Erfahrung, da sich tatsächlich viele nicht trauen, den staatlichen Verboten zu trotzen. Auffallend aber ist, daß es längst auch eine andere Entwicklung gibt. Viele Gruppen haben gelernt, daß sie sich ihre Rechte nehmen müssen, daß sie mit kreativen Mitteln den Protest bunt, laut und friedlich machen können. Daß Rhythmusinstrumente, clowneske Einlagen, daß ein gemeinsames Hinsetzen oder Händehochhalten helfen kann, den Provokationen der vorgeschickten Polizei zu widerstehen. Und so war Frankfurt trotz aller Verbote in diesen Tagen eine bunte Stadt mit Ansprachen, kulturellen Beiträgen und Diskussionen – allerdings nur in verhältnismäßig kleinen Gruppen.
Als die Bürger und Bürgerinnen auf dem Paulsplatz in Frankfurt, unmittelbar neben der Paulskirche, der Wiege der Demokratie, Grundgesetzbücher hochhielten, forderte die Polizei sie sogar auf, diese Bücher herunterzunehmen. In Frankfurt am Main werden die Grundrechte eben nicht hochgehalten, sondern den Macht- und Kapitalinteressen untergebuttert.
So erfreulich dieses Verhalten der Demonstrierenden ist, so erschreckend ist auf der anderen Seite der Umgang der Stadt mit diesen Menschen. 1.430 Personen wurden zum Teil über mehrere Stunden in Gewahrsam genommen. Rechtsanwälten wurde der Zugang zu Mandanten verwehrt, Aufenthaltsverbote wurden erteilt, Zelte und Schlafsäcke beschlagnahmt. Der Ordnungsdezernent informierte die Öffentlichkeit fälschlich, daß Bürger, die trotz Verbot demonstrieren, Straftaten begingen.
Frankfurt ist zum Symbol der Außerkraftsetzung des Grundgesetzes geworden. Aber Frankfurt steht nicht alleine. Überall in der Bundesrepublik gibt es Versuche, Versammlungen zu verbieten oder mit Auflagen fast unmöglich zu machen. Versammlungen, zum Beispiel wenn sie gewaltfreies Handeln einüben, werden kriminalisiert, sie werden mit einem hochgerüsteten Polizeikessel begleitet, der jede Öffentlichkeitswirksamkeit verhindert, sie werden rechtswidrig mit Video überwacht, aus nichtigen Anlässen werden Schlagstock und Pfefferspray eingesetzt.
Elke Steven arbeitet beim Komitee für Grundrechte und Demokratie und ist Mitherausgeberin des alljährlich erscheinenden »Grundrechte-Reports«