Als es galt, gegenüber einer geschichtsvergessenen Politik an den Faschismus zu erinnern, wurden die Gedenkstätten meist den Opfern gewidmet. Von Anfang an wußte man aber: Wo es Opfer gegeben hat, muß es auch Täter gegeben haben. Bei der Planung der Gedenkstätte in der Wolfenbütteler Justizvollzugsanstalt, wo in der NS-Zeit mehr als 650 Menschen unter dem Fallbeil oder am Galgen hingerichtet worden waren, dachte man dabei weniger an den Scharfrichter als an die juristischen Schreibtischtäter. Deshalb erkannte das niedersächsische Gedenkstättengesetz vom 18. November 2004 der Gedenkstätte Wolfenbüttel einen Sonderstatus zu. Ihr Bildungsauftrag umfaßt auch die Erinnerung an die Täter und ihre Verbrechen. Demgemäß soll die Wolfenbütteler Ausstellung über das begangene Unrecht und die dazu verwendeten juristischen Begriffskonstruktionen informieren, zugleich über die Strukturen der NS-Justiz sowie auch über die Mentalitäten und Karrieren der Richter.
Es kam anders. Als die Ausstellung im Jahre 1999 eröffnet wurde, waren zwar die Schautafeln fertiggestellt. In mit Fotos und Grafiken illustrierten kurzen Texten konnte aber die Perfidie der juristischen Arbeitsweise nicht ausreichend dargestellt werden. Die Anschauung davon, auf welche trickreiche Art die Täter das Unrecht legitimierten, war den aus Schubern herauszunehmenden Akten vorbehalten. Darin sollte auch über die Karrieren der Täter und ihren weiteren Lebensweg in der Bundesrepublik informiert werden. Nach Anfertigung von vier schmalen Täterakten stellte der Gedenkstättenleiter Wilfried Knauer seine Arbeit an den Biographien ein und beseitigte den zur Unterbringung der Täterbiographien vorgesehenen »Täterturm« (s. Ossietzky 8/12). Sein Vorgesetzter, der seit 2008 amtierende Stiftungsgeschäftsführer Habbo Knoch, wies meine Beschwerde mit der gesetzwidrigen Begründung zurück, »Primäraufgabe« der Gedenkstätte sei das Gedenken an die Opfer. Der Gedenkstättenleiter selbst verkündete in der Wolfenbütteler Zeitung: »Die Geschichte der Opfer dieses Ortes zu erforschen und zu dokumentieren, das ist seine Aufgabe. Das ist unser Geschäft: Schicksalsklärung.« Das Leid der Opfer muß also dafür herhalten, um möglichst wenig an die Täter und ihre diabolischen Methoden erinnern zu müssen.
Tatsächlich verweist jedes Opferschicksal auch auf die Täter. Es ist schon schlimm genug, daß den meisten Opfern und ihren Angehörigen eine materielle Wiedergutmachung vorenthalten worden ist und die Täter, anstatt Rechenschaft abzulegen, in Ehren ihre Karrieren fortsetzen durften. Mit der Verweigerung der Erinnerung an die Täter verweigert man den Opfern auch die moralische Genugtuung.
In Festreden spricht Stiftungsgeschäftsführer Knoch imponierend von der Notwendigkeit, zu »kontextualisieren«, dies mit einem »historisch-kontextualisierenden Blick«, in einer »konstruktiven, multiperspektivischen Aneignung der (…) miteinander konkurrierenden kommemorativen und historischen Referenzen des öffentlichen Umgangs mit der (Zeit-)geschichte«.
Die in schlichterem Deutsch gestellte konkrete Frage nach dem untrennbaren Zusammenhang von Opferleid und Täterschuld berührt ihn ebenso wenig wie der Vorschlag, in anschaulicher Gegenüberstellung von Opfern und Tätern unterschiedliche Mentalitäten und Lebenswege von Juristen herauszuarbeiten, etwa mit der Gegenüberstellung des mutigen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer und seines Antipoden, des früheren Reichsgerichtsrats und späteren BGH-Präsidenten Hermann Weinkauff oder – eine leibhaftige Konfrontation im Gerichtssaal – des Rechtsanwalts Joseph Wirmer mit Roland Freisler oder, gleichfalls im Bild festgehalten, von Carl von Ossietzky mit einem SS-Schergen.
Um die Kritik an der Mindergewichtung des Täteraspekts scheinbar gegenstandslos zu machen und Zeit zu gewinnen, hat Knoch vor zwei Jahren in einem Überraschungscoup eine verschwommen als »Neukonzeptionierung« bezeichnete Umgestaltung der Ausstellung und zugleich ohne vorherige Diskussion die Absicht verkündet, den Schwerpunkt der Gedenkstätte weg von dem authentischen Ort des Hinrichtungsbaus in eine leere Turnhalle zu verlegen, in der eine »Erkundungslandschaft« entstehen sollte.
Davon ist zwar nichts mehr zu hören, doch Knauers Begründung für eine »Neukonzeptionierung« – die vorhandene Ausstellung sei zu »textlastig« – läßt Schlimmes befürchten. Mit diesem Schlechtreden der von ihm selbst mitgestalteten Ausstellung erwecken er und Knoch den Eindruck, daß sie noch immer nicht begriffen haben, worin der Beitrag der Juristen zum Unrechtsstaat bestanden hat und worin eine KZ-Gedenkstätte sich von einer Gedenkstätte zur NS-Justiz unterscheidet.
Die Menschenrechtsverletzungen in den Lagern wurden, sieht man von den Schreibtischtätern in den Berliner Befehlszentralen ab, mit der Schußwaffe, mit Schlägen, Folter und Giftgas begangen. Das Tatwerkzeug mordender Juristen ist eher unauffällig. Es ist ihre verschleiernde Sprache, der juristische Text. Es ist die Rechtsanwendungsmethode, mit der sie Unrecht in Recht verwandeln. Indem sie ihre Entscheidungen mit dem Schein der juristischen Korrektheit versahen, gewährten sie den Machthabern eine weitaus wirksamere Unterstützung, als weisungsabhängige Richter hätten leisten können. Unter dem Einsatz ihres reichhaltigen juristischen Instrumentariums, auch durch von ihnen erarbeitete gesetzgeberische Techniken, verrechtlichten sie das Unrecht, legitimierten den Terror. Sie errichteten vor dem Terror eine Legalitätsfassade.
Zu den Akteuren gehörten nicht nur die Richter der Sondergerichte, der Wehrmachtsgerichte und des Volksgerichtshofs, sondern auch die vielen Rechtswissenschaftler, die mit der Umdeutung von Gesetzen aus der Zeit vor 1933 dem Terror den Weg ebneten und mit der Erfindung zweckdienlicher neuer Rechtsbegriffe wie »verschärfte Vernehmung« oder »Artgleiche«, nicht zur »Volksgemeinschaft« gehörende »Gemeinschaftsfremde« die Juden, »Asoziale« und andere Minderheiten aus dem Recht ausgrenzten und letztlich die Legitimation für den Massenmord lieferten.
Dieser spezifische Tatbeitrag der Juristen läßt sich nur durch behutsam ausgewählte Texte, nicht durch Bilder oder Gegenstände vermitteln. Unklar ist, wie das durch eine »künstlerische Auseinandersetzung« geschehen soll, wie der von Knoch ernannte Vorsitzende seiner neuen Kommission gefordert hat.
Wichtig wäre es, nach dem Tatbeitrag der Juristen auch für das Gesamtsystem der Konzentrationslager zu fragen. Es waren Rechtsprofessoren wie die in der Bundesrepublik einflußreich weiterwirkenden Ulrich Scheuner, Theodor Maunz (späterer bayerischer Kultusminister) und Ernst Rudolf Huber, die die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 mit ihrer Außerkraftsetzung der wichtigsten Grundrechte quasi zum Grundgesetz des Dritten Reiches erklärten und die mit dem verschleiernden Begriff »Schutzhaft« die Einweisung von Bürgern ohne Gerichtsbeschluß in Konzentrationslager rechtfertigten. In der von Knoch auch persönlich geleiteten Gedenkstätte Bergen-Belsen findet man kein Wort dazu.
Adressaten der Gedenkstätte Wolfenbüttel sind alle Bürger, aber besonders Juristen und angehende Juristen. In Wolfenbüttel könnten sie lernen, daß juristische Berufsqualitäten ins Gegenteil umschlagen können. Die Möglichkeit eines manipulativen Umgangs mit dem juristischen Instrumentarium ist kein Spezifikum des Unrechtsstaates. Deutlich wurde das in den 1950/60er Jahren, als weit über 100.000 Bürger mit Strafverfahren überzogen wurden, weil sie als Kommunisten oder auch nur in Zusammenarbeit mit Kommunisten die Adenauer-Regierung kritisierten und gegen die unter Adenauer betriebene Wiederaufrüstung agitierten.
Zur NS-Justiz gab es nicht nur argumentative Parallelen, sondern auch viele personelle Kontinuitäten. Der damals 24jährige Journalist Walter Timpe hatte es gewagt, Artikel gegen die Wiederaufrüstung und über die Nazivergangenheit einiger Minister, darunter die des Bundesvertriebenenministers Theodor Oberländer, zu veröffentlichen. Auch hatte er das Verbot der kommunistischen Jugendorganisation FDJ kritisiert. Daraus konstruierte die Anklage eine »Rädelsführerschaft« in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung und Beihilfe zur Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht.
Deswegen wurde er 1955 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Sein Ankläger war Staatsanwalt Karl-Heinz Ottersbach, der beim Sondergericht Kattowitz gegen jüdische und polnische Angeklagte mit unvorstellbarer Grausamkeit gewütet hatte.
Vor der politischen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg sahen Timpe und viele andere Kommunisten sich auch mit dem Landgerichtsdirektor Konrad Lenski konfrontiert. Dieser hatte im Dritten Reich als Richter und Staatsanwalt beim Reichskriegsgericht mindestens 13 französische und andere Widerstandskämpfer unter das Fallbeil gebracht. Einen Zeugen Jehovas ließ er wegen »Zersetzung der Wehrkraft« zum Tode verurteilen. Als in dem von der DDR veröffentlichten »Braunbuch« die Namen Lenski und Ottersbach erschienen, verfügte das Landgericht Lüneburg mit Wirkung für die gesamte Bundesrepublik die Einziehung des »Braunbuchs«.
Landgerichtsdirektor Kurt Bellmann hatte am Sondergericht Prag über 110 Todesurteile gefällt. Mehrere Frauen wurden verurteilt, weil sie ihre jüdischen und kommunistischen Freunde zeitweise bei sich beherbergt und beköstigt hatten. Bellmann wurde zwar nach dem Krieg in Prag zu 20 Jahren schwerem Kerker verurteilt, aber schon 1955 wurde er als »nicht amnestierter Kriegsverbrecher« in die Bundesrepublik abgeschoben. Dort übernahm ihn die niedersächsische Justiz sofort als Landgerichtsdirektor. Ein gegen Bellmann eingeleitetes Verfahren wurde eingestellt. In der Einstellungsbegründung der Staatsanwaltschaft Hannover vom 5. Mai 1961 heißt es zu den von der Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus und anderen Gruppen erstatteten Strafanzeigen: »Es handelt sich offenbar um eine Schützenhilfe der VVN, gelenkt vom östlichen Weltkommunismus ... Die Anzeigen … sind nichts anderes als Kampfmittel im Kampfe des östlichen Weltkommunismus gegen die westlichen Demokratien und müssen als solche gesehen, erkannt und gewertet werden.«
Timpe und seine Gefährten mußten ihre Strafen in der JVA Wolfenbüttel verbüßen. Ihr Schicksal und die Namen der für ihre Verurteilung verantwortlichen Juristen kommen in der Gedenkstätte nicht vor. Der Gedanke, die nötigen Informationen würden bald nachgeholt, ist angesichts der rechtslastigen Einstellung des niedersächsischen Kultusministers Bernd Althusmann wohl illusionär. Wer sich wenigstens durch Einsichtnahme in das Archiv der Gedenkstätte informieren möchte, sieht sich der von Knoch verfügten totalen Archivsperrung gegenüber.
Mit der Vernachlässigung des Täteraspekts setzt die Gedenkstätte Wolfenbüttel die Tradition jenes Systems von Verschweigen und Verharmlosung fort, das die Vergangenheitspolitik früherer Jahrzehnte beherrscht hat. Die Ausstellung leidet nicht unter einem Zuviel, sondern unter einem Mangel an Texten. Für Täterbiographien steht in den noch immer leeren Aktenschubern und im »Täterturm« reichlich Platz zur Verfügung.
Wann eine neue Ausstellung eröffnet werden kann, steht in den Sternen. Nach allem, was man hört, hat die neue Kommission nicht einmal ihre Arbeit richtig aufgenommen.
Mit Mißständen in der Gedenkstätte Wolfenbüttel hat sich Helmut Kramer, ehemaliger Richter am Oberlandesgericht Braunschweig und Gründer des Forums Justizgeschichte e.V., zuvor schon in den Ossietzky-Heften 8, 9 und 10/12 befaßt.