Unter dem – noch vornamenlosen – Pseudonym Seghers legte 1928 Netty Radványi geborene Reiling die Erzählung »Aufstand der Fischer von St. Barbara« vor. Das schmale Bändchen wurde alsbald mit dem renommierten Kleist-Preis bedacht. Der bürgerliche Literaturbetrieb – vor 85 Jahren konnte er eine solche Herausforderung ertragen. Er würdigte die Kunst, zumal eine Sprache, die nicht glatt war und nichts glätten wollte. Er ließ sich nicht provozieren von der hochpolitischen Botschaft der Geschichte.
Es ist ein Leben in Armut und Hunger, das die Fischer von St. Barbara führen. Der Reeder Bredel beutet sie aus. Bei einer Erhebung im nahen Port Sebastian vor zwei Jahren ist »so ein Dutzend draufgegangen«. Der Anführer Hull konnte entkommen und seine Schußverletzung ausheilen. Nun fährt er nach St. Barbara. Er will den Kampf erneut aufnehmen. Die Fischer vertrauen ihm. In einer großen Versammlung formulieren sie ihre Forderungen: drei Fünftel Anteil bei sieben Pfennig das Kilo, sonst fahren die Männer nicht mehr aus. Als ihr Verhandlungsführer verhaftet wird, zerstören sie das örtliche Büro der Reederei. Doch die weiß die Staatsmacht an ihrer Seite: Erst mit Polizei, dann mit einem Regiment Soldaten sollen Ruhe und Ordnung wiederhergestellt werden; niemand darf die Ausbeuter stören. Es gibt Tote. Auch Kedennek wird erschossen. Seinen mutigen Neffen Andreas trifft auf der Flucht in den Klippen eine Kugel. Hull wird verhaftet, sein Schicksal ist besiegelt. Die Fischer fahren schließlich wieder zu den alten Konditionen aus.
Alles verloren? Der Schein trügt: »Aber längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf der See waren, saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen und behütet hatte für das, was für sie am besten war.« Die Erfahrung der Solidarität, des gemeinsamen Kampfes für gerechtere Verteilung der Erträge, ist in den Köpfen und Herzen der Fischer. Sie werden den Kampf wieder aufnehmen, und sie können siegen. »Die Kraft der Schwachen« – dieses Wort von Anna Seghers nennt Hans Mayer »das geheime Leitmotiv all ihres Erzählens«. Schon früh im »Aufstand« klingt das Motiv an, als Andreas, vom Kapitän schikaniert, diesem das Messer unters Kinn hält. Der Kapitän läßt den Jungen ungeschoren, denn »da waren die Blicke der Fischer, die um ihn herumsaßen, so sonderbar starr auf ihn gerichtet, ein harter Stacheldraht von Blicken«.
Anna Seghers erzählt die Geschichte ohne Hast. Sie zeigt uns das Leben von Menschen, die hart geworden sind in Entbehrung und Unglück. »Dreimal am Tage duckte einen der Hunger vor den kahl gescheuerten Tisch.« Das winzige, eben geborene Kind, »rot und roh«, hat keine Lebenschance. Und das Glück kann man sich ausmalen – ein glitzernder Jahrmarkts-Schnickschnack, eine Liebesnacht mit der Kleinen aus St. Blé, »rund und braun wie eine Nuß«, doch alles bleibt nur ein Traum. Dann geht die Angst um, Angst vor Zerstörung der armseligen Existenz, vor Verhaftung und Tod. Desaks Marie, Liebchen der Fischer und Andreas zugetan, klammert sich an ihr gelbes Halstuch, als sie, von der Soldateska vergewaltigt, in den Trümmern des Hauses zurückbleibt. Tod und Zerstörung zertreten das wenige Zarte in einer harten Welt.
Diese Welt gehört den Ausbeutern. Sie wollen Profit machen. Da wird nicht verhandelt, da wird diktiert. Widerstand wird gebrochen. Die Ausbeuter haben ja den Staat im Rücken, ihren Staat. Sie lassen schießen. Doch man kann die Welt auch anders ordnen, meinte Anna Seghers. Die junge Frau aus gutbürgerlichem jüdischen Haus »machte die proletarische Sache zu der ihren« (Paul Rilla), und das nicht nur literarisch: Just im Erscheinungsjahr des »Aufstands« trat sie der KPD bei. Vor dem Faschismus geflohen, zuletzt ins mexikanische Exil, kehrte sie 1947 nach Berlin zurück und lebte ab 1950 in Ost-Berlin. Rückhaltlos stellte sie sich in den Dienst des ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden. Als die langjährige Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR vor 30 Jahren, am 1. Juni 1983, starb, hinterließ sie ein reiches literarisches Werk. Zu den bekanntesten Titeln zählen »Das siebte Kreuz«, gewidmet »den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands«, und der Exil-Roman »Transit«.
Seit dem Erscheinen der Erzählung hat sich die Welt nicht zum Besseren verändert. Der krisenträchtige Kapitalismus behauptet sich mit aller Macht. Mehr noch: Er hat die ihm verhaßten sozialistischen Modelle des Ostblocks hinweggefegt. Und er hat »die Märkte« zu Lebewesen höherer Art stilisiert, deren vernünftiges Walten keine Regulierung verträgt. Durch gewissenlose Spekulation ruinierte Banken werden um den Preis der Verelendung der Völker und des Abbaus der Demokratie gerettet. Die sich empören, für ein Leben in Würde auf die Straße gehen, in Griechenland und anderswo, werden niedergeknüppelt.
Alle sozialen Errungenschaften sind Früchte des Kampfs der Arbeiterbewegung. Wissen wir das noch? Haben wir uns nicht schon an Maßhalten, Verzichten, Zurückweichen gewöhnt? Dann müssen wir uns nicht wundern, wenn nach und nach verloren geht, was unsere Väter im Betrieb und auf der Straße erkämpft haben. Anna Seghers sagt uns: Steht zusammen! Kämpft für ein würdiges Leben, für die gerechte Verteilung der Güter der Welt! Und laßt euch nicht durch Rückschläge entmutigen! Oder wie Paul Rilla in seiner Geburtstagsgabe für die 50jährige Anna Seghers formulierte: »Ein niedergeschlagener Aufruhr ist die Gewähr der besseren revolutionären Aktion von morgen.«