Zur Unterstützung der Freiheitskämpfe in Nordafrika entschied der Internationale Rat des Weltsozialforums (WSF), das seit 2001 zweijährlich stattfindende Forum 2013 in Tunesien zu organisieren. Nach Angaben des tunesischen Veranstaltungskomitees nahmen 50.000 Menschen, davon 10.000 aus dem Ausland, am ersten Weltsozialforum in einem arabischen Land teil. Die tunesische Gesellschaft war unter dem Ben-Ali-Regime bis vor zwei Jahren international weitgehend isoliert. Treffen von mehr als zwei Personen konnten als »unangemeldete Versammlung« aufgelöst werden. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist das Forum mit Zehntausenden BesucherInnen als Meilenstein für die säkulare Demokratiebewegung des Landes zu sehen.
In Nordafrika wurde das WSF als Stärkung dieser Bewegung wahrgenommen. Zum Teil hegte man sogar die Hoffnung, daß das Forum neue Impulse geben und einen emanzipatorischen Prozeß in Gang setzen könnte, der, ähnlich wie in Lateinamerika vor etwa zehn Jahren, zur Bildung von linken, der breiten Bevölkerung nahestehenden Regierungen führen könnte. Für viele Menschen aus Nordafrika bestand auf dem WSF vor allem der Wunsch, sich mit anderen politisch Aktiven aus der Region auszutauschen. Eines der heißen Themen dabei war die Frage der Gestaltung des Staates und die Rolle, die der Islam dabei spielen soll. Entsprechend groß war der Andrang zu Veranstaltungen mit dem muslimischen Intellektuellen Tariq Ramadan, Professor für zeitgenössischen Islam in Oxford. Es gelte, den Islam von seiner Stigmatisierung zu befreien, so Ramadan. Westliche und arabische Welt müßten den Islam als Referenz für die arabische Welt akzeptieren. »Ich bin nicht einverstanden, aber ich verstehe, worauf Du Dich beziehst« wäre seiner Meinung nach ein guter Ausgangspunkt für einen Dialog. Ein Weltsozialforum, das an der rigiden Gegenüberstellung von säkular-progressivem und islamisch-konservativem Diskurs festhalte, bliebe in einem Konservatismus verhaftet. Dies fand nicht bei allen Beifall. Unter den Zuhörenden waren einige, die sich von der zunehmenden Stärke islamistischer Akteure bedroht fühlen und die Einschränkung grundlegender Rechte fürchten. Andere wiederum unterstützten Ramadan mit dem Argument, daß islamistische Akteure nicht als monolithischer Block gesehen werden dürften. Oder sie argumentierten im Sinne von Hamdeen Sabahi, dem Vorsitzenden der nach der ägyptischen Revolution gegründeten »Volksbewegung«, daß Koalitionen entlang gemeinsamer Interessen wie »sozialer Gerechtigkeit«, zu bilden seien. Andere warnten vor der zunehmenden Polarisierung des jeweils säkularen und religiösen Lagers, gerade in Tunesien. Die Zivilgesellschaft müsse versuchen, diesen »ideologischen Krieg« zu beenden und stattdessen durch Dialog Brücken bauen. Daß diese kontroversen Diskussionen in Tunesien geführt wurden, ist an sich schon ein Erfolg des Weltsozialforums.
Abgesehen von den in der Region bereits bestehenden internationalen Kampagnen scheinen keine Kampagnen oder Netzwerke mit regionaler Beteiligung auf dem WSF gebildet worden zu sein. Die auf dem WSF und darum herum seit Jahren geführten Debatten wurden nicht auf die Bedürfnisse Tunesiens oder der Region zugeschnitten. Klimaveränderung und ähnliche globale Fragen scheinen den meisten AktivistInnen aus Nordafrika derzeit nicht auf der Seele zu brennen, so daß es in Tunis zuweilen schien, als würden zwei parallele Foren tagen: das der internationalen und das der arabischen AktivistInnen. Vieles an Begegnungen und Netzwerkbildung auf dem Forum war dem Zufall überlassen, und ein wenig waren alle von der jahrmarktähnlichen Fülle der angebotenen Seminare überwältigt. Für InternationalistInnen aus den EU Ländern wäre es sinnvoll, Netzwerke zu gründen oder bestehende zu stärken, die die EU oder europäische Einzelstaaten als Akteure mit negativen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen des Großteils der Menschen in Nordafrika thematisieren, wie zum Beispiel die Assoziierungs- und Freihandelsabkommen der EU. Im November war zwischen der EU und Tunesien ein privilegiertes Partnerschaftsabkommen unterzeichnet worden. Dieses Abkommen sichert die Interessen der Europäischen Union – »Sicherheitskooperation« und europäische »Erschließung« des lokalen Markts – in Tunesien, während die Interessen des Großteils der tunesischen Bevölkerung ignoriert werden. Ein anderes Beispiel für notwendige internationale Unterstützung sind die Entschuldungskampagnen in Ägypten und Tunesien. Ihnen liegt der Gedanke zugrunde, daß diese Staaten sich unter den Diktatoren hoch verschuldet haben, ohne daß die breite Bevölkerung davon profitierte. Daher fordern die von der tunesischen und ägyptischen Zivilgesellschaft ausgehenden Kampagnen eine Schuldenrevision. Hier benötigen AkteurInnen mehr politische Unterstützung auf europäischer Seite. Auch wenn solche Netzwerke bereits existieren, würde deren Ausweitung und Druck auf EntscheidungsträgerInnen not tun.
Die Auseinandersetzung mit den politischen AkteurInnen in Nordafrika ist notwendig. AktivistInnen aus Europa sollten mit pragmatisch-kritischem Blick auch auf diejenigen zugehen, die sich politisch-religiös definieren. Das heißt nicht, diese AkteurInnen und ihre Programme grundsätzlich gutzuheißen, sondern verstehen zu wollen, wie diese Parteien oder Bewegungen entstanden sind, worauf sie sich beziehen, welche Vorstellungen sie haben und welche Ziele sie verfolgen, warum sie erfolgreich sind und wer ihre AnhängerInnen sind. Wenn eine andere Welt möglich sein soll, ist der Dialog auch auf dieser Ebene ein Muß.
Tanja Tabbara leitet das Nordafrika-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Peter Schäfer lebte von 2001 bis 2012 in Ramallah/Palästina, leitete von 2008 bis 2012 das dortige Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung und baut nun das RLS-Büro für Nordafrika in Tunis auf.