Das »Christliche Gespenst« droht den Besuchern der Hamburger Kunsthalle. Mit zur Faust geballten herabhängenden Rechten, in Unterhosen und mit Bäuchlein, die Füße nackt. Der Kopf ohne Mund, mit leeren Augen. Da, wo das Gehirn sein sollte, ein begrenzender Strich. Darauf prangt ein Kreuz. Das Gespenst gehört – erkennbar an den Flügeln – zur Spezies, die der Ausstellung den Namen gab: Paul Klee »Die Engel«. Noch bis zum 7. Juli zu sehen – mit etwa 80 Exemplaren als Gemälde, Guachen, Aquarelle, vor allem Zeichnungen. Zusätzlich Werke mit Engeldarstellungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Himmlische Boten als Verkünder der Maria bis zu Ensors Radierungen »Engel der Vernichtung« und seinen »Teufel prügeln Engel und Erzengel« (Katalog, 151 Seiten, 29,80 €).
Klees ironischer Blick läßt seine Engel heute modern erscheinen. Klee stattet sie mit menschlichen Schwächen aus. Es sind keine Heilsbringer, aber manchmal Überbringer des Gewünschten, auf der Federzeichnung von 1913 – das Menschlein kniet bittend vor dem Engel. Dann kam der Krieg, in den sich Klee, anders als sein Freund Franz Marc, nicht drängelte. Schon Marcs Uniform haßte er, »das verdammte Habit«, das später »wie ausgedrücktes Gedärme zum Trocknen« an der Leine hing. Marc versuchte mit Klee über die Beziehung von Krieg und Kunst zu diskutieren. Klee nannte Marcs Begeisterung »Soldatenspiel«. Doch auch Klee bekam einen Einberufungsbefehl – am 11. März 1916, dem Tag, an dem er telegrafisch die Nachricht von Marcs Tod beim Schlachtfest von Verdun erhielt. Nun mußte auch Klee die »Kostümierung« tragen. Auf dem Flugplatz von Schleißheim im Bodendienst. Nach dem Heldentod von Marc, Macke und anderen Malern wurden Künstler an ungefährlichere Stellen versetzt. Aber Klee sah viele Flugzeugabstürze und zeichnete, bekam sogar die Aufgabe, sie zu fotografieren. In seinen Bildern findet sich davon nichts Reales. Auffällig viele Vögel tauchen auf, sogar Nachtigallen. Fliegende Wesen. Auch die können abstürzen wie in der Zeichnung »Ein Stück Mondwelt« (1917) oder im Aquarell »Blumenmythos« (1918). Herwarth Walden, Klees Galerist, wollte genau das, den Vogel als »Leitmotiv«, wie der Kunsthistoriker Otto K. Werckmeister schreibt. Klee als der »kosmisch-kindliche« Künstler, der auch schon mal die Titel seiner Bilder änderte, um den Verkauf zu fördern. Klees Welt als Gegenwelt zu den Kriegsverwüstungen. Und Fliegen war für ihn eine Metapher für die Kunst, die erhebt und auch scheitern kann. Später wurde Paul Klee zur Fliegerschule Gersthofen versetzt. Auch dort: Abstürze. 1920 entsteht ein Aquarell, das er »Fliegersturz« nannte. Doch schon 1918 hatte er im »Angelus descendens« einen absteigenden Engel geschaffen, über ihm ein Vogel in der gleichen Sturzhaltung, hoch oben neben Sonne, Mond und Stern, alle grün.
Klees bekanntestes Bild: »Angelus novus« (1920), das Walter Benjamin besaß und das mit dessen Schrift »Über den Begriff der Geschichte« berühmt wurde, zeigt vielleicht keinen Engel. Immerhin hat er Vogelfüße. Die Interpretationen über diese Figur führen vom auferstandenen Christus über Hindenburg bis zu Hitler. Das Bild eines »aggressiv redenden Mannes mit Krawatte und im Mantel« – so deutete ihn Professor Johann Konrad Eberlein in einem ganzseitigen Artikel der FAZ vom 20. Juli 1991. »Es ist nicht auszuschließen«, meint Eberlein, daß Klee in München durch »das Auftreten Adolf Hitlers angeregt wurde«. Ach ja, Schwabing, die Atelierfeste und Kneipen, durch die Hitler »redend« zog. Da muß doch ein Zusammenhang sein. In Hamburg ist der »Angelus novus« nur als Faksimile zu sehen. Das Original hängt in Israel und ist nicht transportfähig. Die Ausstellung zeigt Dokumente zum Bild und zur Rezeptionsgeschichte – den skurrilen FAZ-Artikel allerdings nicht. Dazu einige Kompositionen zum »Angelus novus«.
Ein Engel von 1933 – hier tatsächlich könnte Klee an Hitler gedacht haben – der Titel: »Sturz«. Im April des Jahres wurde Klee als Kunstprofessor in Düsseldorf suspendiert. Seine Wohnung beim Dessauer Bauhaus war vorher von der SA durchsucht worden. Die in Hamburg ausgestellte Pinselzeichnung zeigt ein hart auf den Boden aufgepralltes fassungsloses Gesicht mit einem geschlossenen und einem starr blickenden Auge. Strähnen auf der Stirn und das Bärtchen, alles vorhanden. Auch zarte Flügel. Und ein Schwanz. Doch ein Teufel? Unter den Engeln gibt es ein paar böse Geister, die Klee als wichtig empfand – zum Ausgleich. Dazu gehört der »Angelus militans« (1940) im gelben Gewand mit rotem Kopf, der nur aus Augen zu bestehen scheint. Ihm beigesellt, ein Trommler. Ein Kreide-Blatt, leuchtend wie Glasfenster. Die meisten Engeldarstellungen stammen aus dem Jahr 1939. Klee starb am 29. Juni 1940, sechzigjährig. Eine schwere Krankheit zwang ihn in den letzten Jahren zum Arbeiten im Sitzen.
Klees Engel befinden sich oft in einem Zustand des Übergangs, gerade »noch tastend«, »noch weiblich« oder »noch häßlich«. Der »arme Engel« hat sogar drei gelbe Flügel, aber an seinem zartblauen Gesicht klebt hinten ein Gewächs wie ein Kopfbuckel. Vielleicht ist er nur »unfertig«. Der »Angelus dubiosus« zeigt nicht sein wahres Gesicht, eine pastellblaue Maske mit Flügeln ist vorgehängt. Engel können »altklug« sein oder »vergeßlich«, mit niedergeschlagenen Augen, sich schämend – oder weitgeöffneten Augen, um den Stern über sich zu sehen. Im Jahr 1939 empfanden seine Engel »nochmals hoffend«. 1940 – nicht nur seine Krankheit, die Sklerodermie, ließ Klee versteinern – entstanden Stilleben in Öl, eines mit dem Todesengel und das rätselhafte letzte Bild. Darauf findet sich auch Klees Blatt mit dem häßlichen Engel wieder. Er lächelt und eine Figur auf dem Tisch nimmt das Lächeln auf. Der kleine Engel hat jetzt auf seinem Kleid dort, wo vorher ein Minus war, ein Plus-Zeichen. Sind diese federleichten Wesen ein Versuch Klees, sich gegen die drohende Erstarrung zu wehren?