Seit 30 Jahren dauert die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland an, dünn verschleiert durch statistische Tricks und massenhaft erzwungene Teilzeitarbeit ohne auskömmliches Einkommen. Von der Peripherie, zunächst aus Asien, aus Lateinamerika und aus Afrika, nun aber auch schon aus den südeuropäischen Ländern, frißt sich das Krebsgeschwür der lebenslänglichen Freisetzung von Arbeitskräften in das Zentrum des ehemals rheinischen Kapitalismus, der vormaligen »sozialen Marktwirtschaft«. Seit der legendären Studie über »Die Arbeitslosen von Marienthal« (1933) wissen wir, daß das elende Gefühl, nicht gebraucht zu werden, überflüssig zu sein, individuell und gesellschaftlich zerstörerisch wirkt: Die kleine wie die große Gemeinschaft zerbricht, Sport, Kultur und Bildung veröden; die Menschen sind darauf zurückgeworfen, das tägliche Leben in einer perspektivlosen Mangelwirtschaft zu organisieren. Zu hoffen ist also nicht auf diejenigen, die der Kapitalismus schon abgeschrieben hat. Aktiv werden diejenigen, die sich von fairer Teilung der Arbeit ein besseres Leben erwarten und erhoffen und Verantwortung auch für ihre Kinder und Enkel übernehmen können und übernehmen wollen.
Profit ist etwas anderes als Gravitation, am Wechsel von Frühling, Sommer, Herbst und Winter ändert kein Manager, keine Wirtschaftsminister und keine Großmacht etwas. Die Regeln der Ökonomie unterliegen Veränderungen durch jeweils veränderte Machtverhältnisse in der Konkurrenz der Unternehmen und Standorte und im Klassenkampf, der derzeit von den Reichen gegen die Armen, von denjenigen, die über Produktionsmittel verfügen, gegen die doppelt freien Lohnarbeiter, seien sie voll erwerbstätig oder Freelancer, seien sie Minijobber oder »Hartz IV«-Empfänger, geführt wird. Die Arbeitszeit, die Zeit also, in der der lohnabhängig beschäftigte Mensch nicht selbst über sich bestimmen kann, steht seit Beginn der Industrialisierung neben der Lohnfrage im Zentrum dieses Klassenkampfes. Und da ist er, der subjektive Faktor, der die Regeln der Ökonomie von den Gesetzen der Natur unterscheidet. Es ist eben weder natürlich noch gottgewollt, daß Menschen eine bestimmte lange Zeit des Tages oder der Nacht, zwölf Stunden oder acht Stunden, eine bestimmte Zeit der Woche, 48 Stunden oder 35 Stunden, unter fremder Bestimmung Arbeit verrichten, die mit ihrer Person nichts zu tun hat. Im Zentrum des Klassenkampfes steht diese Frage deshalb, weil der Unternehmer aus der Verlängerung des Arbeitstages zusätzliche Extraprofite zieht und seine fixen Kosten reduziert. Die lohnabhängig Beschäftigten haben ganz andere persönliche Interessen: sich um Partnerschaft oder Kinder kümmern, faulenzen (chillen), Haus- und Gartenarbeit, sich weiterbilden, sich in die gesellschaftliche Entwicklung einmischen, Bilder malen, wandern; all solch unproduktives und kaum zu vermarktendes Zeug ... Jedenfalls ist das individuelle Interesse nicht, unter fremdem Kommando Schrauben zu drehen, Räder an Autos anzuschrauben, Ramsch im Ein-Euro-Shop zu verkaufen, Computer-Programme zu erstellen oder Fenster zu putzen. Die Anzahl der Lottospieler wäre sonst viel geringer! Nur das System der kapitalistischen Lohnarbeit zwingt die Menschen zu dieser entfremdeten Arbeit, zum Verkauf ihrer Arbeitskraft. Aus den millionenfach verschiedenen und doch grundsätzlich gleichen individuellen Interessen speist sich der Widerspruch gegen die Zeitdiebe, gegen den totalitären Zeitanspruch der Arbeitgeber: Der subjektive Faktor wird unkalkulierbar und nur durch Drohung mit Erwerbslosigkeit bei Strafe von Erniedrigung durch »Hartz IV« beherrschbar. Aber es ist eben nicht der eine subjektive Faktor, sondern es sind Millionen Menschen mit unterschiedlichen Zeitansprüchen, die für eine faire Verteilung von Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit gewonnen werden können. In dieser Vielfalt und Unterschiedlichkeit liegt nicht nur eine Herausforderung, sondern auch die große Chance. Wenn mit der 30-Stunden-Woche als kurze Vollzeit für junge Familien begonnen wird, so wie die IG Metall das vorschlägt und in die nächste Tarifrunde einbringen will, können wir uns schon die nächste Gruppe von Menschen vornehmen, zum Beispiel die SchichtarbeiterInnen oder die BauarbeiterInnen oder die in der Pflege Beschäftigten. Für jede Gruppe gibt es gemeinsame und unterschiedliche, jedenfalls gute Gründe für eine radikale Arbeitszeitverkürzung. So entwickelt sich der subjektive Faktor – von Zeit zu Zeit – zu einer objektiven Kraft!