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EU enträtseln: Was nicht zur Wahl steht  (Johann-Günther König)

Am 25. Mai findet die »Europawahl« statt. In einer Artikelserie, begonnen in Ossietzky 9/14, nimmt Johann-Günther König die Europäische Union ins Visier.

Der desolate Zustand der Europäischen Union spiegelt sich im belanglosen Wohlfühl-»Wahlkampf« für das EU-Parlament. Die Unionseuropäerinnen und -europäer, besonders die von der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialkrise hart betroffenen, müßten entschieden darauf drängen, daß die Regierungen auf mitgliedsstaatlicher wie europäischer Ebene ihre Lage verbessern und vor allem den Versuchen der politischen Eliten und reaktionären Kräfte widerstehen, sie bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit auf den nationalstaatlich überkommenen Modus einzuschwören, sprich, sich weiterhin im Merkelschen Sinne radikal wettbewerbsstaatlich gegeneinander ausspielen zu lassen (Jürgen Habermas warnt zu Recht vor der »Umfälschung von sozialen in nationale Fragen«).

Krisen bieten die Chance, aus Fehlern zu lernen und Neues zu wagen. Einer der Reformer des 20. Jahrhunderts, US-Präsident Franklin D. Roosevelt, leistete das zu Beginn der 1930er Jahre mit seinem – auch die Macht der Banken beschneidenden – New Deal zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise. Im Januar 1941 gab er mit seiner »Four Freedoms Address« den Anstoß zur internationalen Normierung von Menschenrechten. Die von seiner Witwe Eleanor Roosevelt geleitete Kommission verkündete schließlich 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie postuliert: »Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit.«

Franklin D. Roosevelt verstand unter Freiheit vor allem die menschliche Freiheit von Mangel und Furcht. Weil ihm die sozialpolitischen Erfolge nicht ausreichend erschienen, wandte er sich im Januar 1944 mit einer Rede an den Kongreß der Vereinigten Staaten, in der er die Ergänzung der Verfassung um weitreichende Sozialreformen einforderte, die »Second Bill of Rights«. Die Politik stehe angesichts der voranschreitenden Industrialisierung in der Pflicht, betonte er, »eine Strategie festzulegen zur Herbeiführung eines dauerhaften Friedens und eines so hohen amerikanischen Lebensstandards, wie es ihn noch nie gegeben hat«. Es sei nicht länger hinnehmbar, »daß ein Drittel oder ein Fünftel oder auch nur ein Zehntel der Bevölkerung schlecht ernährt, schlecht gekleidet, schlecht behaust und ohne Sicherheit ist«. Er plädierte unter anderem für: das Recht auf eine nützliche, einträgliche Arbeit in der Industrie, dem Handel, der Landwirtschaft und dem Bergbau; das Recht auf ein Einkommen, das angemessene Ernährung, Kleidung und Erholung gewährleistet; das Recht für jeden Landwirt, mit dem Anbau und Verkauf seiner Produkte genug zu verdienen, um sich und seiner Familie ein gutes Leben zu sichern; das Recht jedes Unternehmers, ob groß oder klein, in einer Atmosphäre der Freiheit Handel zu treiben und vor unlauterem Wettbewerb und Beherrschung durch Monopole im eigenen Land und im Ausland geschützt zu sein; das Recht jeder Familie auf ein anständiges Zuhause; das Recht auf angemessene medizinische Versorgung; das Recht auf angemessenen Schutz vor Existenzängsten im Alter, bei Krankheit, Unfallfolgen und Arbeitslosigkeit sowie das Recht auf gute Bildung.

Franklin D. Roosevelt schloß seinen Aufruf mit den Worten: »Alle diese Rechte stiften Sicherheit. Wenn der [Zweite] Weltkrieg beendet ist, müssen wir diese Rechte implementieren, um ein glückliches Leben im Wohlstand zu ermöglichen.« Die »Second Bill of Rights« wurde kein Bestandteil der US-Verfassung. Auch heute, rund 70 Jahre später, hat sie in den Vereinigten Staaten keine Chance auf parlamentarische Wiedervorlage. Und in der EU? Angenommen, die von Roosevelt ins historische Pflichtenheft geschrieben Rechte wären unlösbarer Bestandteil neu ausgehandelter Verträge oder dereinst einer Verfassung der EU – was würde eine durch sie begründete Europäische Wohlfahrtsunion dann auszeichnen?

Es wäre eine Union, in der herkömmlich heftig miteinander konkurrierende national-wettbewerbsstaatliche Interessen nur mehr Erinnerung sind. Es wäre eine Union, in der Umweltschutz und die Eindämmung des Klimawandels so selbstverständlich sind wie öffentliche Investitionen zur menschengerechten Verbesserung der Infrastruktur, Bildung und generell der Daseinsfürsorge. Es wäre eine Union, in der junge Menschen kein Spiel- und Ausball eines renditegetriebenen Wirtschafts- und zunehmend Bildungssystems mehr sind. Es wäre eine Union, die ausbeuterische Beschäftigungsmodelle und Lohndumping nicht zuläßt. Es wäre eine Union, die wirksam die Lebens- und gesellschaftlichen Teilhabechancen der vielen in den unteren sozialen Schichten »festgenagelten« Unionsbürgerinnen und -bürger – einschließlich der Migranten – so verbessert, daß wahrhaftig Chancengleichheit entstehen kann. Es wäre eine Union, die durch die Schaffung und Gewähr von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen sowie die zweckdienliche Einhegung der Finanz- und Wirtschaftsakteure eine menschengerechte soziale europäische Marktwirtschaft verbindlich zum Alltag macht und offen für noch bessere Wirtschaftsweisen bleibt. Es wäre eine Union, die die Herkulesaufgabe bewältigt hat, die extrem hohe Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung sowie die wettbewerbsgetriebene steuerpolitische Konkurrenz in allen europäischen Regionen wirksam aufzuheben. Es wäre eine Union, die weder Steuerflucht in Finanzoasen noch irrwitzige Steuergestaltungsmodelle auf Kosten der Allgemeinheit zuläßt. Es wäre eine Union, die die politische Unlust der Bürgerinnen und -bürgern vor allem gegenüber den EU-Organen gegenstandslos gemacht hat. Es wäre eine Europäische Wohlfahrtsunion, in der die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedürfnisse aller in ihren heimatlichen oder jeweils präferierten Regionen lebenden Menschen das Maß der regierungspolitischen Künste sind. Es wäre eine Europäische Wohlfahrtsunion mit einer Regierung, die demokratisch aus dem Europäischen Parlament hervorgegangen ist und die gewählt und abgewählt werden kann.

Die Führung der real existierenden EU leistet in frühen 21. Jahrhundert nicht im Traum das, wofür politische Gestalter zuständig sind und was sie auf dem Vertragspapier sogar mit ihren Unterschriften versehen beschwören: die Verwirklichung der europäischen Solidargemeinschaft. Die im Lissabonner Vertrag verankerte »Charta der Grundrechte der EU« beinhaltet wichtige soziale Rechte. Sie schränkt sie aber zugleich wieder ein, indem sie die Rechte ausdrücklich an einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten bindet. Würden diese Beschränkungen eines Tages entfallen, wären die etwa in den Artikeln 34 und 35 von der Union gewährten Rechte endlich das Papier wert, auf dem sie stehen. Sie lauten – hier vorausgreifend durch eckige Klammern von den einzelstaatlichen Einschränkungen befreit: »Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes Schutz gewährleisten […]. Jeder Mensch, der in der Union seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat und seinen Aufenthalt rechtmäßig wechselt, hat Anspruch auf die Leistungen der sozialen Sicherheit und die sozialen Vergünstigungen […]. Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen […]. Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung […]. Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt […].«

Zwei grundlegende Rechte gewährt die Charta der Europäischen Union nicht. Erstens das Recht auf eine nützliche, einträgliche Arbeit. Laut Artikel 15 hat jede Person lediglich das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. Zweitens das Recht auf ein Mindesteinkommen, das – statt knapp gehaltener und mit diskriminierenden Auflagen verbundener Sozialgelder – angemessene Ernährung, Kleidung, Behausung und Erholung gewährleistet. Besser noch wäre ein jeder Region angemessenes Bedingungsloses Grundeinkommen, für das Nichtregierungsorganisationen auch im Rahmen einer 2013 gestarteten »Europäischen Bürgerinitiative« werben. Eine solidarische Unionsbürgersozialversicherung wäre das mindeste, was eine moderne und zukunftsgewisse EU den Menschen bieten sollte.

Der Weg in eine Europäische Wohlfahrtsunion, in der die Wirtschaft und das Geldwesen dem Mensch dienen, kann gegangen werden. Fragt sich nur, wer den ersten Schritt macht. Wenn die Krisenerfahrungen in den mitgliedsstaatlichen Bevölkerungen eine kämpferische Mobilisierungskraft stimulieren, die das auf kurze Sicht und am Abschlepphaken des Kapitals fahrende EU-Regime tatsächlich zu einem Umbau zwingt, wäre der Weg in die Europäische Wohlfahrtsunion gewiß kein leichter, aber wenigstens eingeschlagen. Vor allem aber gilt es, die 28 mitgliedsstaatlichen Bevölkerungen von den Vorteilen eines nachnationalen Unionseuropas so umfassend zu überzeugen, daß ihnen ihre jeweilige nationale Identität beziehungsweise der jeweils praktizierte oder gefühlte Nationalismus, Nationalchauvinismus oder gar Kulturimperialismus quasi automatisch als obsolet erscheinen kann.

Menschen lieben ihre Heimat und die mit ihr verbundenen vielfältigen Eigenarten nicht zufällig; solange sie niemand ausschließen, der im Vertrauen auf das Menschenrecht eine neue Heimat sucht, ist regionale Identität durch nichts zu ersetzen. Die herkömmlich nationale Identität aber ließe sich prinzipiell sicherlich durch eine unionseuropäische ersetzen – schließlich sind die Nationalstaaten der Alten Welt selbst ein historisch noch ziemlich junges bürgerliches Konstrukt; ein Blick auf die zahlreichen mitteleuropäischen Königreiche, Fürstentümer, Erzbistümer und Reichsstädte des Heiligen Römischen Reichs am Vorabend der Französischen Revolution 1789 spricht so gesehen Bände.

Ist es im fortgeschrittenen Zeitalter der Globalisierung wirklich ein Problem, zum Beispiel kein Deutscher oder Franzose zu sein, aber eben ein sächsischer, westfälischer, bremischer oder elsässischer, bretonischer, korsischer Unionseuropäer? Vor dem Hintergrund der für ein Leben in Freiheit, Würde und Wohlfahrt absolut notwendigen Bedingungen bieten die meisten einzelnen europäischen Nationalstaaten jedenfalls längst keine umfassende Gewähr mehr. Da nun die EU in ihrer gegenwärtigen Verfaßtheit – und das heißt auch: ohne eine vom mitgliedsstaatlichen Gesamtsouverän getragene fortschrittliche Verfassung – gewiß nicht als empfehlenswerte Alternative für ein Leben ohne vertrauten Nationalstaat taugt, ist guter Rat teuer. Solange in den EU-Mitgliedstaaten – und sukzessive auf gesamteuropäischer Ebene – die sozialen Bewegungen den Umbau der sozial und ökonomisch immer repressiveren Union nicht politisch wirksam einfordern und eigene Aktionsprogramme entwickeln und nach Kräften der öffentlichen Debatte zuführen, wird der Umbau der EU zu einer menschendienlichen Europäischen Wohlfahrtsunion wohl nicht zustande kommen.

Vom EU-Parlament, soviel steht fest, sind hilfreiche Gesetzesinitiativen nicht zu erwarten. Und von der EU-Kommission, die das demokratisch völlig unhaltbare Monopol für Gesetzesinitiativen hat, aller Erfahrung nach schon gar nicht. Traurig aber wahr, der dringend notwendige Umbau samt Kernsanierung der EU ist solange zum Scheitern verurteilt, wie der 2009 in Kraft gesetzte Vertrag von Lissabon gilt. Er wiederum kann von den Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten nur durch einstimmige Beschlüsse verändert oder aufgehoben werden.

Dieser Beitrag beruht auf dem neuen Buch von Rudolf Hickel und Johann-Günther König: »EURO stabilisieren. EU demokratisieren. Aus den Krisen lernen«, Kellner Verlag, 288 Seiten, 16,90 €