Manche Leute haben so etwas wie eine Knastkarriere. Sie sind zwar weder Taschendiebe noch Einbrecher, aber Wiederholungstäter sind sie schon. Der Jüngling namens Manolis Glezos, von dem hier zu berichten ist, hat es in seinem späteren Leben in mehreren Anläufen auf höchst ehrenwerte Weise zu elf Jahren Gefängnis gebracht, und viereinhalb Jahre mußte er obendrein in der Verbannung leben. Aber mit nur einer einzigen, nämlich der ersten, seiner vielen die jeweiligen Tyrannen vergrätzenden Taten ist er in Griechenland berühmt und eine historische Figur geworden!
Das schaffte er mit einer nächtlichen Bergbesteigung, die er mit seinem Schulfreund Apostolos im Frühjahr 1941 unternahm. Auf dem Berg befand sich schon ziemlich lange ein stark ruinierter, aber weltberühmter Bau, der, als sie noch lebte, der Göttin Athene gehörte und viele Eulen beherbergte. Der Berg, auf dem die Ruine zu besichtigen war, wurde Akropolis genannt. Weil er mitten in ihrer Hauptstadt ragte und von zwei Seiten weder zu besteigen noch zu bebauen war, erklärten ihn die Griechen zu einer Art Heiligtum und machten ihn zu einem weltweit attraktiven Wallfahrtsort.
Davon hatte man auch in den rauhen kimmerischen Gebieten Europas erfahren, und die dort ansässigen Philhellenen, die zum Stamm der Nazisten gehörten, machten sich deshalb mit vielen bewaffneten Männern in bekreuzten Panzern auf den weiten Weg nach Süden, um sich den Berg einzuverleiben und ihre Panzer auf ihm zu parken. Als ihnen das gelungen war, hißten sie dort oben zum Zeichen, daß er nun ihnen gehöre, einen schwarzweißroten Lappen, der so groß war, daß man ihn aus der ganzen Stadt sehen konnte. Das ärgerte die alten Besitzer mächtig und sie fluchten heftig auf den Lappen und die Panzerfahrer.
Es gab aber nun diesen Manolis, neunzehn Jahre jung, den fuchste der Lappen so gewaltig, daß er sich mit seinem Freund Apostolos in der mondlosen Nacht des 30. Mai, ohne irgend jemanden einzuweihen, an der buschigen Seite des Bergs hinaufschlich. Sie fanden den hohen Mast unbewacht, holten den Lappen herunter und zerrissen ihn. An dem Mast zogen sie eine ebenso große blauweiße Fahne hoch.
Als Manolis am Morgen nach Hause kam und seine Mutter ihn fragte, wo um Himmelswillen trotz der Ausgangsperre er gewesen sei, holte er aus seiner Tasche einen Fetzen Tuch. Ohne ein weiteres Wort wußte jetzt die Mutter Bescheid. Die Kunde von der Tat der beiden Jünglinge verbreitete sich in der Hauptstadt und im Land wie ein Sturmwind und machte den Griechen Mut.
Die philhellenischen Panzerfahrer allerdings fühlten sich schwer beleidigt, verurteilten die Lappenschänder zum Tode und suchten jahrelang vergeblich nach ihnen. Sie sind aber nicht gestorben und leben heute noch.
»Lappenholer« ist eine bisher unveröffentlichte Kalendergeschichte des »Kölnischen Widerstandsforschers« und Schriftstellers Erasmus Schöfer. Am 1. Juni liest Erasmus Schöfer in Berlin aus »Winterdämmerung«, dem vierten Band seiner Tetralogie »Die Kinder des Sisyfos« (16 Uhr, MEZ, Spielhagenstraße 13).