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Titel1215

Tante Nahles‘ Märchenstunde  (Ulla Jelpke)

»Ein Betrieb – ein Tarifvertrag« – diesem Grundsatz mit langer Tradition in Deutschland diene das »Gesetz zur Tarifeinheit«. Das behauptete die Bundesministerin für Arbeit Andrea Nahles (SPD) in der emotional geführten Bundestagsdebatte vor Verabschiedung des Gesetzes am 22. Mai. »Was wir seit 2010 beobachten, macht vielen Menschen Sorgen«, behauptete Nahles bezüglich des damaligen Urteils des Bundesarbeitsgerichts zur Stärkung der Rechte kleiner Gewerkschaften. Die Spartengewerkschaften gefährdeten die Einheit der Gewerkschaften, wenn sie nur für die Interessen ihrer Mitglieder und nicht der ganzen Belegschaft streikten. Tarifkollisionen bedrohten den Betriebsfrieden und die

Tarifautonomie. »Unsere Aufgabe als Gesetzgeber ist es, das Funktionieren der Tarifautonomie sicherzustellen und der Sozialpartnerschaft Raum und Regeln zu geben«, rechtfertigte die Ministerin in bestem Orwellschen Neusprech eben solche Eingriffe in die Tarifautonomie.
Hier sei wohl »Tante Nahles‘ Märchenstunde«, konterte Klaus Ernst von der Linksfraktion. Schon der Titel des Koalitionsantrages sei »purer Etikettenschwindel«. Wenn es der Regierung wirklich darum ginge, daß in einem Betrieb nur jeweils ein Tarifvertrag gelte, dann müßten erst einmal die Regelungen bei der Leiharbeit und den Werkverträgen geändert werden. »Das Gesetz sieht eine Einschränkung des Streikrechts kleiner Gewerkschaften vor«, so Ernst, der lange Jahre als IG-Metall-Gewerkschaftssekretär tätig war.


Auch der Fraktionschef von Bündnis90/Die Grünen Anton Hofreiter warf der Regierungskoalition vor, Streikrecht und Koalitionsfreiheit einschränken zu wollen. Es gehe der Regierung eben nicht darum, Unterbietungskonkurrenz durch sogenannte christliche Gewerkschaften zu verhindern, wie vor 2010. Das neue Gesetz solle vielmehr verhindern, daß das Tarifniveau infolge einer Überbietungskonkurrenz durch Spartengewerkschaften steigt. Dieses Gesetz »ist antisolidarisch, es schadet dem Betriebsfrieden, es schadet der Solidarität in den Betrieben, es ist verfassungswidrig«.


»Für unser freies Deutschland muß gelten: Ein Grundrecht darf nicht unter Mehrheitsvorbehalt gestellt werden«, sprach sich der CDU-Abgeordnete Rudolf Henke – selber Mitglied der Ärztegewerkschaft Marburger Bund – gegen den von seiner Fraktion mitgetragenen Gesetzentwurf aus. »Ein Grundrecht unter Mehrheitsvorbehalt ist ein Grundrecht nach Gusto der Mehrheit. Aber Grundrechte stehen allen Menschen in gleicher Weise zu, ob sie Minderheiten sind, ob sie Schmarotzer oder Spalter sind, ob sie Mitglied bei der CDU, den Grünen oder Kommunist sind«, erklärte Henke unter Applaus von Linken- und Grünen-Abgeordneten.


Mit 444 Stimmen der Regierungsfraktionen gegen 126 Stimmen der Opposition und 16 Enthaltungen wurde das Gesetz in namentlicher Abstimmung verabschiedet. Aus der SPD hatte die Oldenburger Abgeordnete Kerstin Lühmann, Mitglied der konservativen Deutschen Polizeigewerkschaft, gegen den Regierungsantrag gestimmt. Aus der Union kamen 16 Gegenstimmen, wohl mehrheitlich aus Loyalität mit konservativen Berufsgewerkschaften. Mehrere Gewerkschaften kündigten Verfassungsklage an.