Das trotz massiver Proteste und Bedenken vom Bundestag verabschiedete Tarifeinheitsgesetz (TEG) verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen das Grundgesetz:
Streikrecht
Das Grundgesetz spricht zwar nicht vom Streikrecht, sondern vom Recht, zur Wahrung von Arbeitsbedingungen Koalitionen, also Gewerkschaften, zu bilden. Wer sich die Debatten im Parlamentarischen Rat 1948 ansieht, der weiß, daß man auf eine wörtliche Aufnahme des Streikrechts verzichtete, um dessen Beschränkung zu verhindern.
Gewerkschaften sind ohne das Kampfmittel Streik undenkbar. Sie sind aus Streiks entstanden, und sie erneuern sich in und mit dem Streik. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) zählt zu den unverzichtbaren Eigenschaften einer Gewerkschaft ihre Kampffähigkeit. Mittlerweile ist auch in der Rechtsprechung anerkannt, daß die Koalitionsfreiheit das Streikrecht erfaßt. Man kann darüber streiten, ob das sogenannte Arbeitskampfrecht des BAG mit seiner Beschränkung von Streiks auf tariflich regelbare Ziele und auf sogenannte gewerkschaftliche Streiks seinerseits zulässig ist. Aber das wäre allenfalls ein Grund, eine Ausweitung des Streikrechts zu verlangen, nicht aber seine erstmalige Verankerung. Damit würde man all denen in die Hände spielen, die – wie die herrschende Meinung der 1950er und 1960er Jahre – behaupten, es gäbe gar kein Streikrecht, sondern nur eine eingeschränkte Streikfreiheit. Es gibt ein Streikrecht, verankert in der Verfassung und übrigens auch in der Europäischen Sozialcharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Es gilt, dieses Recht zu verteidigen. Gegen Beschränkungen durch den Gesetzgeber ebenso wie durch die keineswegs immer streikfreundliche Rechtsprechung. In einem so rechtsgläubigen Land wie Deutschland kann und darf man den Stellenwert juristischer Auseinandersetzungen um das Streikrecht nicht geringschätzen. In vielen Bereichen, zum Beispiel im öffentlichen Dienst, wird immer noch gefragt: Dürfen wir das überhaupt?
Das Streikrecht ist als Teil der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes garantiert. Zwar enthält das neue Gesetz kein ausdrückliches Streikverbot, aber in der Begründung heißt es ausdrücklich, daß der Arbeitskampf für einen kollidierenden Tarifvertrag nicht »verhältnismäßig«, also rechtswidrig sei. Zudem gelten nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Streiks nur dann als rechtmäßig, wenn sie ein »tariflich regelbares Ziel« haben. Mit der Ausgrenzung des Tarifvertrages der Minderheitsgewerkschaft wäre dieses nicht mehr gegeben. Das TEG enthält also mindestens indirekt ein Streikverbot.
Das wichtigste an der Verteidigung des Streikrechts ist der Streik selbst. Durch den Streik selbst wird das Recht auf Streik wahrgenommen. Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr der deutschen Rechtsprechung, als daß der Bundestag ein Recht auf Generalstreik verabschiedet. Nein: Das Streikrecht muß praktiziert werden.
Gewerkschaftsfreiheit
Die freie Gründung von Gewerkschaften ist Teil der Koalitionsfreiheit. Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes schützt die Koalitionsbildung für »Jedermann und für alle Berufe«. Damit ist die Bildung und Betätigung reiner Berufsgewerkschaften ebenso geschützt wie diejenige von Industrie- und Branchengewerkschaften. Das TEG richtet sich erkennbar gegen Berufsgewerkschaften, von denen gemutmaßt wird, sie seien regelmäßig in der »Minderheit«. Die damit verbundene Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit ist unzulässig. Zudem führt das bloße »Nachzeichnungsrecht« der Minderheitsgewerkschaft in bezug auf Tarifverträge der Mehrheitsgewerkschaft zu einem »Zwei-Klassen-System« innerhalb der Gewerkschaften und damit zu Gewerkschaften minderen Rechts. Damit wird massiv in den Kernbereich des Grundrechts auf Gründung und freie Betätigung von Gewerkschaften eingegriffen.
Tarifautonomie
Bestandteil der Koalitionsfreiheit ist die grundsätzliche tarifliche Gestaltungsfreiheit der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Das TEG greift auf zweierlei Weise in den Kernbereich der Tarifautonomie ein. Zum einen verhindert oder erschwert es den Abschluß und den Erhalt von Flächentarifverträgen, denn durch die Beschränkung auf den »Betrieb« wird eine einheitliche Tarifgestaltung gezielt erschwert. Zum anderen reduziert er das Koalitionsrecht der Minderheitsgewerkschaften auf ein Recht zur »Nachzeichnung« von Tarifverträgen der Mehrheitsgewerkschaft und unterwirft diese damit dem Diktat der konkurrierenden Organisation.
Stärkung der Arbeitgeberseite
Das Verfahren zur Feststellung der Mehrheitsgewerkschaft birgt die unmittelbare Gefahr der Offenlegung der Mitgliederzahlen aller betroffener Gewerkschaften. Dadurch wird nicht nur das Individualrecht der Mitglieder auf Schutz ihrer Daten verletzt, vielmehr werden durch die Offenlegung der Mitgliederzahlen Gegenmaßnahmen der Unternehmen etwa im Falle von Streikaktionen erleichtert. Damit wird auf unverhältnismäßige Weise in die Machtbalance der Tarifparteien eingegriffen, ohne daß dies für die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie erforderlich wäre. Hinzu kommt, daß die Definitionsgewalt, was ein »Betrieb« sei, dem Arbeitgeber zukommt.
Aushöhlung des Gewerkschaftsbegriffs
Zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie verlangt das Bundesarbeitsgericht seit langem für die Gewerkschaften eine empirisch nachweisbare »Mächtigkeit«. Genau dies aber wird durch das sogenannte Nachzeichnungsrecht konterkariert. Nun sollen auch Koalitionen tariffähig sein, die eigene Tarifverträge nicht erstreiken können, aber in der Vergangenheit Gefälligkeitstarifverträge unterschrieben haben. Damit stärkt das Vorhaben nicht die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie, sondern schwächt sie. Das TEG gibt vor, Arbeitskonflikte zu verhindern. Tatsächlich jedoch wird das Gesetz zur Verschärfung von Arbeitskonflikten führen müssen, weil die jeweils konkurrierenden Gewerkschaften versuchen werden, sich noch stärker voneinander abzugrenzen und eigene tarifliche Ziele zu verfolgen. Das Gesetz wird die Gewerkschaftskonkurrenz untereinander ebenso fördern, wie die Spaltung der Belegschaft.
Der Gesetzgeber war sich voll der verfassungsrechtlichen Risiken des TEG-Projekts bewußt und ist nicht nur bereit, den entstehenden Schaden, sondern auch eine Kassierung des Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht in Kauf zu nehmen. Damit verletzt die Bundesregierung ihre im Grundgesetz verankerte Bindung an Recht und Gesetz.
Widerspruch zur Tarifschlichtung bei der Bahn
Obwohl das Gesetzesvorhaben von Anfang an eine »Lex GDL« war und sich vor allem gegen den Lokführerstreik richtete, hat nun der Vorstand der Bahn mit der Zusage, die GDL könne sehr wohl eigene Tarifverträge abschließen, eine Kehrtwende vollzogen. Eigentlich grotesk, weil damit das Gesetz selbst in Frage gestellt wird. Welche Auswirkungen dieses bei erfolgreichem Abschluß der Verhandlungen haben wird, bleibt abzuwarten. In jedem Falle liegt in diesem Umstand nicht nur ein Erfolg der GDL sondern auch der Proteste gegen das Gesetz und ein Legitimationsverlust des Gesetzgebers. Gleichzeitig wird unabhängig von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts damit nochmals klar, daß das TEG keinerlei »Rechtssicherheit« schafft, sondern Konflikte verschärfen wird.
Entscheidend wird nun sein, daß die arbeitenden Menschen in diesem Land sich selbst, der Öffentlichkeit, den Unternehmern und der Regierung zeigen: Wir sind eine Kraft, wenn wir solidarisch handeln und unsere Gegenmacht ausüben!
Dr. Rolf Geffken arbeitet als Rechtsanwalt und initiierte eine Onlinepetition gegen das Tarifeinheitsgesetz und für den GDL-Streik, der sich über 10.000 Unterzeichner/-innen anschlossen.