Als werde mich im Alter ereilen, wovon ich als Kind verschont blieb …
Am 10. Mai 1945 hatte sich Thomas Mann noch einmal über BBC an die gewandt, die in den letzten Monaten faschistischer Herrschaft in Deutschland seine Ansprachen über den illegal eingeschalteten Sender wahrgenommen hatten: »Deutsche Hörer!« Schon damals schien ihm offenbar der Hinweis nötig, das Ende des Dritten Reiches und die Kapitulation Deutschlands nicht nur als Niederlage wahrzunehmen: »Möge die Niederholung der Parteifahne, die aller Welt ein Ekel und Schrecken war, auch die innere Absage bedeuten an den Größenwahn, die Überheblichkeit über andere Völker, den provinziellen und weltfremden Dünkel, dessen krassester, unleidlichster Ausdruck der Nationalsozialismus war. Ich sage: Es ist trotz allem eine große Stunde, die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit. Sie ist hart und traurig, weil Deutschland sie nicht aus eigener Kraft herbeiführen konnte.«
Seine Enttäuschung über das Ausbleiben eines Umsturzes in Deutschland blieb nach Kriegsende bestimmend für Thomas Manns Verhältnis zu Deutschland. 7. Mai 1945: »Bis jetzt fehlt es an jeder Verleugnung des Nazitums, jedem Wort, daß die ›Machtergreifung‹ ein fürchterliches Unglück, ihre Zulassung, Begünstigung ein Verbrechen ersten Ranges war. Die Verleugnung und Verdammung der Taten des Nationalsozialismus innen und außen, die Erklärung, zur Wahrheit, zum Recht, zur Menschlichkeit zurückkehren zu wollen, – wo sind sie?«
Manns im Herbst 1945 veröffentlichte Weigerung, aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückzukehren, löste in der deutschen Öffentlichkeit eine Debatte um seine Person aus, die unter der Bezeichnung »große Kontroverse« in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen ist. Erst 1949, als ihm sowohl der Frankfurter Goethe-Preis als auch der ostdeutsche Goethe-Nationalpreis verliehen wurden, kam er nach mehr als sechzehn Jahren der Emigration wieder nach Deutschland – zu Besuch.
Noch in den USA hatte er am 26. August 1947 in seinem Tagebuch notiert: »Ich ahne bestimmt, daß die Slawen aus Osteuropa wieder mit den vereinten Kräften des Westens werden hinausgeworfen werden und Deutschland bis auf die Ukraine wohl alles erhält, was Hitler wollte.« Und wenige Tage später, in seinem Briefwechsel mit der Journalistin Agnes Elizabeth Meyer (1992 bei Fischer veröffentlicht): »Die ganze Qual ist noch nicht lange genug her, sie wirkt fort in mir und erhält neue Nahrung durch den Eindruck von Verständnislosigkeit, Egoismus, unverbesserlichem Dünkel, den das gegenwärtige Deutschland auf mich macht. Der Welt recht bald wieder die Faust zeigen zu können ist alles, wovon diese Menschen träumen, und es ist gar nicht so sicher, daß diese Träume Schäume sind. Rußland sammelt tölpelhafterweise einen ebensolchen Haß auf sein Haupt wie einst Deutschland, und das allgemeine Mitleid mit diesem ist durchaus tendenziös. Rußland mag im eigenen Lande nicht zu besiegen sein, aber es mit vereinten Kräften aus Deutschland wieder hinauszuwerfen, samt den Polen, ist bestimmt möglich, und wenn man sich erinnert, daß schon Hitler, wäre er nur ein bißchen manierlicher gewesen, alles hätte haben können, was er wollte (siehe »München«), so schweben einem Zukunftsbilder vor, die es voreilig erscheinen lassen, sich der Furcht vor Deutschland zu entschlagen. Man wird den Kontinent Deutschland ›anvertrauen‹. Aber ob ein deutsches Europa auch ein europäisches Deutschland bedeuten wird? Ich zweifle. Auf Macht wird es wieder hinauslaufen, und mir graut vor deutscher Macht.«
Es schmerzt einzugestehen, heute an diese Warnung erinnern zu müssen.