»Eindrucksvolle Fortschritte« habe die Türkei in den vergangenen Wochen und Monaten gemacht, erklärte der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, am 4. Mai bei der Empfehlung zur Visafreiheit für türkische Staatsbürger (nach junge Welt vom 7./8.5.16). Da hatte kurz vorher bei einem Treffen die türkische Regierungspartei gemeinsam mit anderen Parteien beschlossen, die Abgeordneten der kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ihrer Immunität zu berauben und strafrechtlich wegen »Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« anklagen zu lassen. Danach wurde Premierminister Ahmet Davutoğlu zurückgetreten und durch einen noch getreueren Erdoğan-Liebling ersetzt. Kurz darauf wurden zwei Cumhuriyet-Journalisten wegen Geheimnisverrats zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Sie hatten Belege für die Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an dschihadistische Terrororganisationen in Syrien veröffentlicht. Eindrucksvolle Fortschritte!
Fortschritte macht auch die Demokratie in Brasilien: Sie wird diesmal (noch) nicht in Blut gebadet wie beim Putsch 1964, sondern nur kalt geduscht vom Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin Dilma Rousseff. Die Wahlverlierer regieren jetzt für 180 Tage und schlagen die Korruptionsverfahren gegen sich selber nieder, damit die Justiz sich ganz auf die Verfahren gegen die Präsidentin konzentrieren kann. Der wird zwar keine Korruption vorgeworfen, aber Haushaltsmanipulation. Deshalb wird jetzt schnell der Staatshaushalt saniert, indem staatliche Unternehmen wie die Post privatisiert, das Kulturministerium und das Gleichstellungsministerium geschlossen, Angestellte entlassen und Sozialleistungen gekürzt werden. Die Medien, die in Brasilien einer Handvoll Familien gehören, putschen eifrig mit und informieren nicht über die Volksbewegung, die inzwischen gegen die Amtsenthebung auf die Straße geht. Und deshalb findet diese Bewegung auch in deutschen Medien nicht statt.
Fortschritte auch beim Banken-Stabilisierungsprogramm der Europäischen Union: Die 500-Euro-Scheine werden ab 2018 nicht mehr gedruckt. Und Barzahlungen über 5000 Euro sollen nicht mehr möglich sein. Das soll – so Herr Draghi und Herr Schäuble – die Wirtschaftskriminalität erschweren. Weil dann die Geldkoffer größer und schwerer werden? Der wirkliche Grund ist ein ganz anderer: Wenn die Bankkunden ihr Geld nicht mehr uneingeschränkt in bar abheben können, wird ein Banken-Run erschwert, wenn die nächste Bank Pleite zu gehen droht. Das stabilisiert die Banken – sie sind zwar Pleite, aber die Kunden bekommen ihr Geld nur schleppend ausgezahlt. Welch ein Fortschritt!
Auch die Monopolisierung macht enorme Fortschritte: Bayer will Monsanto kaufen. Der Chemiegigant mit 43 Milliarden Euro Umsatz will den Marktführer bei Saatgut und den viertgrößten Pestizid-Hersteller schlucken und damit das weltweit größte Chemieunternehmen werden. »Wer das Saatgut kontrolliert, beherrscht die Welt«, wie Henry Kissinger es treffend ausdrückte. Die Messer werden gewetzt! Sonst haben die Damen und Herren in diesem Industriesektor nämlich nichts mehr zu tun: »Seit über 25 Jahren hat die weltweite Pflanzenschutz-Industrie kein wirtschaftlich bedeutendes Herbizid mit neuem Wirkmechanismus mehr für Flächenkulturen entwickelt und auf den Markt gebracht – unter anderem eine Folge der Konsolidierung der Industrie, die mit einer deutlichen Reduktion der Forschungsaufwendungen für neue Herbizide einherging«, so der Bayer-Forscher Hermann Stübler (Quelle: Coordination gegen Bayer-Gefahren, cbgnetwork.com).
Da tröstet es wenig, dass ein kleines Tier auch mal gegen die ganz Großen etwas bewirken kann: Ein Marder hat das CERN zum Erliegen gebracht. Er ist allerdings dabei durch den Kurzschluss getötet worden. Sonst hätten wir vielleicht vom Marder lernen können, wie man eine große Maschinerie zum Stillstand bringt (jW vom 3.5.16).
Immerhin, einen echten Fortschritt gibt es zu vermelden: In Spanien wollen die Vereinigte Linke und Podemos im Bündnis zur Neuwahl kandidieren. Da das spanische Wahlgesetz kleine Parteien extrem benachteiligt, könnten nun selbst bei gleichbleibenden Stimmenzahlen erheblich mehr Sitze gewonnen werden, das Kräfteverhältnis könnte vom Patt zu einer Mehrheit jenseits der Reaktion gewandelt werden.
Auch im deutschen Bundestag tut sich Erfreuliches: Die Zahl der gemeldeten Lobbyisten ist von 2000 auf 500 gesunken. Erstmals gibt es jetzt mehr Abgeordnete als Lobbyisten im Bundestag (www.abgeordnetenwatch.de). Und seit Greenpeace die TTIP-Verhandlungsunterlagen ins Netz gestellt hat, haben die 500 auch alle Hände voll zu tun, die Auswirkungen dieser Lektüre niedrig zu halten. Es hat zwar niemanden überrascht, dass alle Befürchtungen der Wirklichkeit entsprechen, aber die Fakten erschweren das Geschwurbel von den »Handelserleichterungen, die Arbeitsplätze schaffen«. Das ist ein Fortschritt!