Nach 1968 fürchteten die verantwortlichen Politiker in der Bundesrepublik den von den kritischen Studenten angekündigten »Gang durch die Institutionen«. Um diesen zu verhindern, verabschiedete die Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt daher am 28. Januar 1972 den sogenannten Radikalenerlass. Sozialisten und Kommunisten sollten eingeschüchtert und ihr Eintritt in Beamten-Berufe verhindert werden. Etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen für den öffentlichen Dienst wurden auf ihre politische Zuverlässigkeit hin durchleuchtet. Es kam zu 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren, 1250 Ablehnungen von Bewerbern und 265 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst. Berufsverbote gab es für Lehrer, Sozialarbeiter, Briefträger, Lokführer und Rechtspfleger. Oft war die Folge die Vernichtung der materiellen Existenz und Altersarmut.
Der »Radikalenerlass« missachtete die Grundgesetz-Artikel 3, 4 und 12 (Diskriminierungsverbot, Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses, freie Berufswahl). Daher hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im September 1995 entschieden, dass der Erlass ein Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention aus dem Jahr 1950 darstellt. Diese Entscheidung war für Deutschland bindend.
Wer nun aber hoffte, dass damit die Berufsverbotspraxis in Deutschland eingestellt würde, wurde enttäuscht, vor allem, wenn er in Baden-Württemberg ansässig war. Denn die Schwaben betätigen sich schon immer gern als Hexenjäger, besonders zu Zeiten, als der reaktionäre Schlagetot-Politiker und Filbinger-Zögling Gerhard Mayer-Vorfelder den Kulturminister in ihrem »Musterländle« geben durfte. Und eine seiner Nachfolgerinnen im Amt, Annette Schavan (CDU, zeitweise Bundesbildungsministerin, stolperte über ihren aberkannten Doktortitel und ist nun seit Juli 2014 deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl), hielt trotz des Gerichtsurteils an dem »Radikalenerlass« fest. Eines ihrer Opfer ist der Realschullehrer Michael Csaszkóczy, der von 2003 bis 2007 Berufsverbot erhielt. Begründung: Das Land habe Zweifel an seiner Verfassungstreue, weil er sich in »linksextremistischen Kreisen« bewege. Csaszkóczy, der keiner Partei angehört, engagiert sich in Heidelberg bei der Antifa und der Roten Hilfe. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hob 2007 das Berufsverbot als rechtswidrig auf. Dem Lehrer wurde eine Entschädigung für den Verdienstausfall zugesprochen, und das Land musste ihn wieder einstellen.
Aber das Landesamt für Verfassungsschutz ignorierte das Urteil einfach. Die vermeintlichen Schützer observierten den Lehrer weiterhin, weshalb dieser gegen das Land eine Klage einreichte. Er wollte gerichtlich durchsetzen, dass man ihm Einsicht in die Akten gewährt, die der Verfassungsschutz über ihn gesammelt hat, und er wollte erreichen, dass die Observierung eingestellt und die Akten nach seiner Einsichtnahme gelöscht werden.
Die Verhandlung fand vor dem Verwaltungsgericht Karlsruhe statt, sinniger Weise am 20. April 2016. »Die Begründung, warum ich den größten Teil der Akten nicht sehen darf, ist der Schutz der Identität der eingesetzten Spitzel«, sagte Csaszkóczy und zitierte wörtlich: »Allein das öffentliche Anprangern der Quelleneigenschaft würde für die betroffenen Quellen bedeuten, dass sie in ihrem persönlichen Umfeld und ihrer Existenz derart starken Belastungen ausgesetzt wären, dass sie in ihrer bisherigen Lebensführung massiv beeinträchtigt wären.« Der Lehrer kommentierte diesen Satz bitter: »Wie im NSU-Komplex auch geht beim Verfassungsschutz Quellenschutz vor Opferschutz.« Was die Prozessbeobachter bei dem Verfahren in Karlsruhe zu hören bekamen, war schier unglaublich. Die »Verfassungsschützer« gaben zu, dass man bei Csaszkóczy keine Gewaltbereitschaft feststellen konnte. Dem Lehrer, der sich stets zum Grundgesetz bekennt, konnten nie strafrechtlich relevante Handlungen und auch keine dienstlichen Verfehlungen nachgewiesen werden. Dennoch sei es notwendig, ihn wegen seines antifaschistischen Engagements auch weiterhin zu überwachen. Im Zuge ihrer Ausführungen gaben die »Schützer« die Bespitzelung von Ostermärschen und gewerkschaftlichen Veranstaltungen unumwunden zu. Der Vorsitzende Richter Martin Morlock nahm diese ungeheuerlichen Bekenntnisse wie Selbstverständlichkeiten hin. Offenbar wollte er sich bei diesem heiklen politischen Fall nicht die Finger verbrennen, weshalb er bereits in der mündlichen Verhandlung ankündigte, dass er eine Berufung zulassen werde. Zur Begründung führte er an, dass es sich um grundsätzliche Fragen handele, die von einer höheren Instanz geklärt werden sollten.
Im Verlauf der Verhandlung wurde deutlich, dass Richter Morlock wie einst Pilatus seine Hände in Unschuld waschen möchte. So war das Urteil, das er mündlich bekannt gab, keine Überraschung: Die Klage des Lehrers wurde in allen Punkten abgelehnt.
So blieben auch die Fragen unbeantwortet, die der Realschullehrer in seinem Schlusswort vor dem Verwaltungsgericht stellte: »Gibt es überhaupt Maßstäbe, an die sich der Geheimdienst halten muss? Wenn weder das höchstinstanzliche Urteil des VGH noch die dezidierte Haltung des Ministeriums, das nach eingehender jahrelanger Prüfung erklärt hat, dass keine Zweifel an meiner Verfassungstreue bestehen, für den Verfassungsschutz relevant sind, in wessen Auftrag agiert er dann eigentlich? Oder kann er in diesem Staat völlig unkontrolliert seine eigene Agenda verfolgen?« Das Verwaltungsgericht Karlsruhe hat es jedenfalls versäumt zu signalisieren, dass der Verfassungsschutz nicht abseits der Rechtsstaatlichkeit agieren darf.
Ausführliche Informationen über den »Radikalenerlass« und seine Folgen kann man im Internet über die Website der Initiative gegen Berufsverbote abrufen. Es gibt auch eine Ausstellung »›Vergessene‹ Geschichte Berufsverbote. Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland«, die kostenlos ausgeliehen werden kann (Verlag und Kontakt: Arbeitskreis Regionalgeschichte e. V., Mail: ak.reg@t-online.de). Als Begleitmaterial zur Ausstellung liegt eine Broschüre vor. In Baden-Württemberg betreiben Betroffene seit 2014 die Aufarbeitung der Berufsverbote. Zusammen mit zwei Landtagsabgeordneten der Grünen und einer Abgeordneten der SPD bildeten sie 2015 einen Runden Tisch mit dem Ziel, die Berufsverbotsopfer zu rehabilitieren und gegebenenfalls zu entschädigen, wie dies in anderen Bundesländern (Bremen, Niedersachsen) bereits geschehen ist. Der Landtag sollte unter der grün-roten Landesregierung diesen Beschluss fassen: »Der Landtag von Baden-Württemberg stellt fest, dass die in der Folge des Radikalenerlasses in Baden-Württemberg verhängten Berufs- und Ausbildungsverbotsmaßnahmen im öffentliche Dienst nicht nur ein politischer Fehler waren. Sie haben – wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1995 festgestellt hat – die Grundrechte verletzt und der Demokratie in unserem Land schweren Schaden zugefügt. Wir bitten die Betroffenen und ihre Familien um Verzeihung für das politische, persönliche und materielle Unrecht, das ihnen zugefügt wurde. Es wird eine Stelle eingerichtet, an die Betroffenen sich wenden können, um ihre Entschädigungsansprüche prüfen zu lassen. Für die Abgeltung solcher Ansprüche wird ein Fonds eingerichtet.« Obwohl Ministerpräsident Winfried Kretschmann selbst als angehender Referendar im Schuldienst wegen seiner Mitgliedschaft im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) von einem Berufsverbot bedroht war, wurde die Bearbeitung dieser Beschlussvorlage abgelehnt. Und da seit dem 12.5.2016 in Baden-Württemberg die Grüne Partei zusammen mit der CDU regiert, ist fraglich, ob der Runde Tisch zur Aufarbeitung der Berufsverbote eine zweite Chance erhält.