erstellt mit easyCMS
Titel1216

Utopie nie aufgegeben  (Horst Schäfer)

Warum bloß machte der Mann hinter dem Steuer Grimassen und fuchtelte mit den Armen, nachdem sein Wagen ausrollte? Ich stand bei Fürstenberg/Havel mit gestrecktem Daumen und hoffte ... Der Abendzug nach Berlin war weg. Schon in acht Stunden ging der Flug von Schönefeld, der mich – in den 80er Jahren – über Moskau nach New York bringen sollte, meiner Arbeitsstelle. Keine Zeit, auf einen Fahrer ohne Macken zu warten. Der erste Beste musste reichen. Die Fahrertür öffnete sich, heraus krabbelte Hermann Kant und fragte: »Watt machst denn du hier mitten in däär Teigaaa?«
Auf der Fahrt nach Berlin lachten wir uns, wie Hermann Kant es später im »Abspann« (1991) beschrieb, »in die Nähe verkehrsgefährdender Hysterie« und bastelten an neuen Theorien über den Zufall als Schnittpunkt zweier »schleifenähnlicher Kausallinien« – seiner über Hamburg (Lesung), Schwerin (Schwester), Prälank (Datsche) nach Berlin und meiner von Berlin über Fürstenberg (Familie) nach Berlin-Schönefeld und New York.


Wir kannten uns seit den 60er Jahren, als ich über Lesungen des schon erfolgreichen DDR-Autors in München und anderen Städten berichtete. Ende der 70er Jahre – ich war DDR-Korrespondent in den USA – wurde Hermann Kant von zahlreichen US-Universitäten eingeladen. In Erinnerung sind die Kenntnis über und die Begeisterung der Professoren und Studenten für DDR-Literatur und für Kant – ob in New York, Minneapolis, Kansas City oder San Francisco.


Eingeprägt hat sich auch, wie überzeugend Kant seinen Zuhörern die Vorzüge und wie geduldig er Fehler und Unzulänglichkeiten seines nicht-kapitalistischen antifaschistischen Staates DDR erklärte. Enttäuscht hatte ihn jedoch das US-Bier, das ihm nicht schmeckte und bei den Mormonen im Bundesstaat »Jutah« gleich ganz verboten war.


Nach Übernahme der DDR durch die BRD wurde der weltbekannte Schriftsteller von den deutschen Leitmedien entweder beschimpft, verleumdet oder ignoriert. Doch auch widrige Umstände hinderten Kant nicht, seine Arbeit fortzusetzen. Zahlreiche Romane, Kurzgeschichten und andere Wortmeldungen bis in die jüngste Zeit (»Ein strenges Spiel«, 2015) zeigen, dass er einer der bedeutendsten Literaten deutscher Sprache des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ist – und dass er seine Utopie nicht aufgibt.


Als Kant 1998 im Neuen Deutschland den Satz fand »Wir im Osten haben es uns sowieso leicht gemacht, indem wir uns als Erben der Antifaschisten fühlten«, entgegnete er in seinem knappen Protestbrief: »Von dieser Generalbehauptung bis zur Zwecklegende vom ›verordneten Antifaschismus‹ ist es nur ein paar Wörtchen weit.«


Dazu hatte er sich bereits 1993 im ND geäußert, in einem seiner, wie ich meine, besten politisch-literarischen Beiträge. Die Rutgers-Universität von New Jersey veröffentlichte vor einigen Jahren ein kritisches Resümee über die mangelnde Akzeptanz seiner Werke durch deutsche Medien und betonte gerade unter Verweis auf seinen Beitrag zum »verordneten Antifaschismus«, der hätte nicht in der Versenkung verschwinden dürfen, sondern im »großen deutschen Feuilleton« seinen Platz finden müssen. (Ossietzky druckt den herausragenden Beitrag von Kant in diesem Heft nachfolgend ab.)


Falls noch jemand plant, am 14. Juni dem dann 90jährigen Hermann Kant persönlich zu gratulieren: Die Festveranstaltung des Neustrelitzer Theaters – 400 Plätze (!) – war bei Redaktionsschluss fast ausverkauft ...

Siehe auch »Hermann Kant, Die Zeit und die Zeit« in Ossietzky 12/2011.