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Titel1216

Theater-Requiem  (Heinz Kersten)

»Theater ist feige geworden ... Heute habe ich das Gefühl, dass Theater nur noch ein Betrieb ist, eine Anstalt, in der fast überall belanglose und dilettantische Stücke gespielt werden.« Ein Castorf-Zitat. Auch ein Urteil über das Theatertreffen? Aber das hatte, als der Noch-Volksbühnen-Intendant sein harsches Verdikt fällte, noch gar nicht begonnen. Im Vorjahr war Castorf, der 2017 ausgerechnet von einem Museumskurator abgelöst werden soll, selbst noch mit seinem skandalisierten »Baal« dabei. Nach 53 Jahren seiner Existenz hat das Theatertreffen in Berlin fast auch etwas Museales. Jedenfalls denke ich manchmal etwas nostalgisch an alte Zeiten. Diesmal wählte die siebenköpfige Kritikerjury unter den laut Reglement zehn »bemerkenswerten Inszenierungen« – ein dehnbarer Begriff – sechs Debuts und fünf Arbeiten von Regisseurinnen. Das war noch nie da, garantierte aber allein keine Qualität, und die musste man doch öfter infrage stellen.


Immerhin vermittelte das Theatertreffen wieder einen Querschnitt durch gerade gängige Trends. Dazu gehörten auch Modernisierungen und der Rückgriff auf andere Genres wie Romane oder Filme. Hierfür lieferte schon die Eröffnung ein Beispiel. Karin Beier, Intendantin des Schauspielhauses Hamburg und zu Recht renommierte Regisseurin mit bereits fünf Theatertreffen-Einladungen, bediente sich eines Films von Federico Fellini aus dem Jahr 1983 »E la nave va«, um mit dessen Übersetzung als »Schiff der Träume« (ein kitschiger und fernsehtauglicher Titel) gerade modischer Aktualität Tribut zu zollen. Das heißt, es mussten vermeintliche Bootsflüchtlinge auf die Bühne, wie sie original auch sonst gern als lebende Theaterrequisiten genutzt werden. Bevor fünf allerdings aus der freien Szene gecastete Afrikaner nach der Pause auftauchen, einer mit dem Publikum Kontakt aufzunehmen versucht und alle als wilde sexy Tänzer sämtliche Klischees bedienen, sollten die Erste-Klasse-Kreuzfahrt-Passagiere dem wohl europäische Dekadenz kontrastieren: Mitglieder eines Orchesters mit einer Urne, aus der die Asche ihres verstorbenen Dirigenten auf dessen Wunsch in die Ägäis verstreut werden soll (s. auch »Bestattungstrip übers Mittelmeer«, Ossietzky 25/2015).


Absolution für den missglückten Theatertreffenauftakt hatte sich Karin Beier schon früher verdient mit ihrer Entscheidung, hundert Geflüchtete erst mal im Schauspielhaus unterzubringen. Übrigens nur ein, wenn auch besonderes Beispiel für vielfältiges Engagement von Theaterleuten für Flüchtlinge. So anspruchsvoll wie weit hergeholt nannte Karin Beier ihr mit dramaturgischem Beistand von Stefanie Carp und Christian Tschirner vom Stapel gelassenes »Schiff der Träume« »Ein europäisches Requiem«.


»Ein deutsches Requiem« à la Brahms durchzog leitmotivisch das von Anna-Sophie Mahler in den Münchner Kammerspielen als »Musiktheater nach dem Roman von Josef Bierbichler« inszenierte Stück »Mittelreich«: eine bayrische Familiengeschichte, bei der auch, hier allerdings als Erinnerung an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ein inkludiertes Flüchtlingsthema eine Rolle spielte. Bemerkenswert?


Für das Interesse an dem Volksbühnenbeitrag mit dem irritierenden Titel »der die mann« nach Texten von Konrad Bayer bürgte schon der Autor und Regisseur Herbert Fritsch, dessen wortloser vergnüglicher Spaß «Murmel Murmel« seit langem immer noch das Repertoire des Castorf-Hauses schmückt. Beim jüngsten Werk beherrschen ein überdimensionaler gelber Trichter und eine rote Treppe die Bühne und vermitteln einen surrealen Eindruck. Den sieben bewundernswerten Schauspielern (zwei weiblich, fünf männlich) dienen sie als Kulisse für ihre verbale und gestische Exzentrik. Der 65-jährige Herbert Fritsch, vor seinem Wechsel ins Regiefach selber Volksbühnenschauspieler und heute eine der gefragtesten und eigenwilligsten Theaterpersönlichkeiten, verdiente sich zum Abschluss des Theatertreffens den 3sat-Preis »für innovative künstlerische Leistungen«.


Neumodisch wurde ein Trend gleich zweimal am gegenwärtig meistgespielten Ibsen vorgeführt. Ungeachtet des Originals wird eine Vorlage krampfhaft heutig aufgepeppt. Vor 133 Jahren uraufgeführt, wirkt »Ein Volksfeind« auch ohne die von Dietmar Dath für das Schauspielhaus Zürich und dessen Regisseur Stefan Pucher erstbearbeitete neue Textfassung noch ganz aktuell. Da bedarf es nicht des als Ursache der Verunreinigung des für den schicken Kurort und sein Wellness-Center lebenswichtigen Quellwassers vermuteten, aber seinerzeit noch unbekannten Frackings. Und dass aus dem Redakteur des lokalen Volksboten eine attraktive Online-Bloggerin wurde, ist ebenfalls nicht gerade werkgetreu. Aber immer noch bleibt der Badearzt Dr. Stockmann mit seinen Enthüllungen allein, auch wenn in die turbulente Versammlung des vierten Aktes das Publikum mit einbezogen wird, was man schon von Thomas Ostermeiers Schaubühnen-Inszenierungen kennt.


Bleiben zwei Höhepunkte dieses Theatertreffengekrampfes. Als Koproduktion des Burgtheaters mit den Wiener Festwochen und dem Theater Basel inszenierte der Australier Simon Stone »John Gabriel Borkman«. Ungewöhnlich gleich das Bühnenbild von Katrin Brack. Unaufhörlich rieselt die ganze Zeit der Schnee und breitet sich auf dem Bühnenboden aus. Die Protagonisten wälzen sich dann immer wieder mal darin. Bereits in den ersten Worten ist von Internet, Facebook und Google die Rede. Die unangemeldet aufgetauchte krebstodkranke Ella (Caroline Peters) erinnert ihre meist alkoholisierte Zwillingsschwester Gunhild Borkman (Birgit Minichmayr) an die 90er Jahre, wie auch später die Dialoge der beiden Rivalinnen um die Beziehung zu John Gabriel Borkman im Mittelpunkt des Abends stehen. Der Titelheld (Martin Wuttke) hat als Ex-Banker wegen Betrugs fünf Jahre Haft verbüßt und sich danach im obersten Stockwerk seines Hauses eingeigelt. Jetzt hat sich der immer noch auf Rache und Rehabilitation sinnende langhaarige Zottelbär zum ersten Mal in die Winterlandschaft gewagt, um alte Rechnungen mit beiden Frauen zu begleichen, die auch noch um Gunhilds Sohn Erhart kämpfen, der aber mit seiner Freundin nichts wie weg will aus dem Gefängnis seiner Jugend. Das Ganze ergibt einen Abend großer Schauspielkunst, der für manche Enttäuschungen dieses 53. Theatertreffen-Jahrgangs entschädigte.


Zu diesen Pluspunkten gehörte noch der einzige Dokumentartheaterbeitrag »Stolperstein Staatstheater«, in dem der in diesem Genre erfahrene Hans-Werner Kroesinger und seine Koautorin Regine Dura dem Badischen Staatstheater Karlsruhe eine Geschichtsaufarbeitung widmeten. Gerade recht zum Stadtgeburtstag 300 Jahre Karlsruhe wird dabei an ein dunkles Kapitel Kulturpolitik erinnert, das freilich auch stellvertretend für andere Orte im »Reich« stehen konnte, deren Theater nach dem Machtantritt des »Führers« (wie auch das lokale »Kampfblatt« hieß) die »Gleichschaltung« vollzogen.


Vor der Kassenhalle des Staatstheaters erinnern jetzt zwei Stolpersteine an Opfer: an die in Ravensbrück umgekommene Schauspielerin und Soubrette Lilli Jank und den Staatsschauspieler Gemmecke, der wegen seiner Diffamierung, mit einer Jüdin verheiratet zu sein, 1937 Selbstmord beging. Kroesinger ergänzt: »Karlsruhe hat im Juli 1933 als erstes Haus an die Reichstheaterkammer gemeldet, dass es ›judenfrei‹ sei.« Was das für die in seinem Theatertreffenbeitrag erwähnten Einzelschicksale bedeutete, hat der Dokumentarist in Archiven gründlich recherchiert, wobei nicht zuletzt die kalte Bürokratensprache der von vier SchauspielerInnen zitierten Belege erschüttert. In aller Nüchternheit waren diese »Stolpersteine« ein echtes Requiem.