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Titel1216

Der Titan unter den Diplomaten  (Ralph Hartmann)

Bereits vor Jahrtausenden galt die Regel: »Über Tote soll man nur Gutes reden.« Sie wird unter anderem dem Philosophen und Satiriker Diogenes von Sinope (um 400–323 v. Chr.) zugeschrieben und heute noch peinlichst beachtet. So auch beim Ableben des ehemaligen Außenministers und FDP-Chefs Hans-Dietrich Genscher. Politiker von rechts bis links waren sich mehr oder wenig einig, wenn sie den Verstorbenen würdigten: »Beharrlich, allgegenwärtig und mit feinem Gespür für historische Momente hat er das friedliche Zusammenwachsen unseres Landes und unseres Kontinents vorangetrieben« (Bundespräsident Joachim Gauck), »Mit ihm verliert Deutschland einen weltweit geachteten Staatsmann und ich persönlich einen hochgeschätzten Ratgeber« (Bundeskanzlerin Angela Merkel), »Er war ein großer Deutscher und großer Europäer« (Außenminister Frank-Walter Steinmeier), »Er hat Geschichte geschrieben und das Land geprägt« (FDP-Chef Christian Lindner), »Mit Hans-Dietrich Genscher geht einer der ganz Großen … Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes trägt wesentlich seine Handschrift« (CSU-Chef Horst Seehofer), »Mit Hans-Dietrich Genscher verlieren wir einen großen Staatsmann. Seine Verdienste um die Wiedervereinigung und Europa werden bleiben.« (Kovorsitzender der Linken Bernd Riexinger).


Erfasst diese Würdigung alle Verdienste des Verstorbenen? Selbstverständlich nicht. Jetzt, neun Wochen nach dem Ableben des Ausnahmepolitikers, ist es an der Zeit, auch auf einige seiner weiteren Meriten einzugehen. Nicht immer hatte Genscher nur Lob und Beifall geerntet. Jahrelang musste er in den 1980er Jahren die Beschimpfung als »Verräter« und gar als »Hallenser Halunke« (Klaus Bölling) ertragen, nur weil er am 1. Oktober 1982 die SPD-FDP-Koalition, in der er erst als Innen- und später als Außenminister wirkte, verließ, die Regierung Helmut Schmidts stürzte und Helmut Kohl den Weg ins Kanzleramt öffnete. Es ging ihm doch nicht um seine persönliche Karriere, sondern einzig und allein um das Wohl der Bundesbürger, deren Interessen er auch fortan selbstlos als Außenminister vertrat. Das war kein Verrat, sondern Dienst am deutschen Volk!


Von ewig Gestrigen wurde ihm auch vorgeworfen, außenpolitisch, vor allem in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen alles getan zu haben, damit es zu keiner Vereinigung der beiden deutschen Staaten, sondern zu einem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik mit den bekannten verheerenden Folgen für die Wirtschaft und Millionen Menschen Ostdeutschlands kam. Das Gegenteil ist der Fall. Schließlich gehörte er zu den bundesdeutschen Spitzenpolitikern, die vor den letzten Volkskammerwahlen auf dem Boden der Noch-DDR den Menschen Mut machten und auf Kundgebungen wieder und wieder ein »deutsches Aufbauwunder« nach der Wiedervereinigung versprachen. Dass es dann ein wenig anders, zur Deindustrialisierung, kam, war nicht seine Schuld. Selbst in Kleinigkeiten war er bemüht, Schaden vom deutschen Volk abzuwehren. Unmittelbar nach dem Gesang der Nationalhymne vor dem Reichstag an der Seite des »Kanzlers der Einheit« und dem Freudenfeuerwerk sorgte er persönlich dafür, dass auch die Mitarbeiter des DDR-Außenministeriums in die Wüste geschickt wurden. Zu Recht vermutete er, dass ein großer Teil von ihnen, vor allem die, die am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen ausgebildet worden waren, nun für den Moskauer Geheimdienst KGB arbeiten würden. Später bewies er aber, dass er nicht nachtragend war. Mit Freude und Dankbarkeit nahm er 1993 die Ehrendoktorwürde dieser Diplomatenschmiede an.


Diese Auszeichnung hatte er verdient. Zwar förderte er die NATO-Osterweiterung, aber im Gegensatz zu anderen NATO-Politikern hatte er den sowjetischen und später russischen Partnern nach seinen eigenen Worten niemals versprochen, dass sich der Militärpakt nicht nach Osten ausdehnen werde. Noch in der Talkshow bei Maybrit Illner am 20. März 2014 betonte er nachdrücklich, dass es im Zuge der Verhandlungen zur deutschen Einheit keinerlei Zusage zum Verzicht auf einen NATO-Osterweiterung gegeben hätte. Die durch und durch ehrliche Haut konnte doch nicht ahnen, dass wenig später ein Vermerk des Auswärtigen Amtes über sein Gespräch mit seinem Freund, dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse, vom 10. Februar 1990 bekannt werden würde. Laut diesem Dokument hatte Genscher beteuert: »Für uns steht fest: Die NATO wird sich nicht nach Osten ausdehnen«, um kurz danach noch einmal zu betonen: »Was im Übrigen die Nichtausdehnung der NATO anbetrifft, so gilt diese ganz generell.«


Sein diplomatisches Meisterstück lieferte er in seinen letzten Amtsjahren, als er entscheidend dazu beitrug, die letzte rote Festung in Europa, die jugoslawische Föderation, zu schleifen. In allerbester Absicht goss er im Sommer 1991 ein klein wenig Öl in das Feuer des in Kroatien aufgeflammten Bürgerkrieges und hintertrieb so, natürlich ohne es zu wollen, die in Gang gekommenen hoffnungsvollen jugoslawischen und internationalen Bemühungen um eine friedliche Konfliktlösung. Höhepunkt dieser Politik war seine Erklärung vom 24. August 1991. An diesem Tag empfing er den jugoslawischen Botschafter in Bonn und erklärte: »Wenn das Blutvergießen weitergeht und wenn die Politik der gewaltsam vollendeten Tatsachen mit Unterstützung der jugoslawischen Armee nicht sofort eingestellt wird, muss die Bundesregierung die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens in den festgelegten Grenzen ernsthaft prüfen.« In seinen guten Absichten hatte er einfach nicht bedacht, dass die separatistischen, nach internationaler Anerkennung strebenden Kräfte in Kroatien darin eine Ermunterung sehen würden, alle Waffenstillstandsvereinbarungen mit der für den Erhalt der Föderation kämpfenden Jugoslawischen Volksarmee zu brechen. Dumm gelaufen, aber der Ehrenmann Genscher stand zu seinem Wort und trieb die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit der jugoslawischen Republiken Kroatien und Slowenien voran. Von diesem Kurs ließ er sich auch nicht abbringen, als solch unbedeutende Außenpolitiker wie der UN-Generalsekretär de Cuéllar vor einer voreiligen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens warnten. Dieser erdreistete sich gar am 14. Dezember 1991 ein Schreiben an Genscher zu richten, in dem es wörtlich hieß: »Ich nehme auch an, dass Sie von der großen Sorge gehört haben, die die Präsidenten von Bosnien-Herzegowina und Mazedonien und viele andere geäußert haben, nämlich, dass verfrühte selektive Anerkennungen eine Erweiterung des gegenwärtigen Konfliktes in jenen empfindlichen Regionen nach sich ziehen würden. Solch eine Entwicklung könnte schwerwiegende Folgen für die ganze Balkanregion haben und würde meine eigenen Bemühungen und diejenigen meines persönlichen Gesandten, die notwendigen Bedingungen für die Anwendung von friedenserhaltenden Maßnahmen in Jugoslawien zu sichern, ernstlich gefährden.« Doch Genscher blieb an der Seite von Kanzler Kohl bei seinem Friedenskurs, er setzte die verfrühte Anerkennung durch und wunderte sich nur, wie der Kriegsfunke auf ganz Jugoslawien übersprang und das schöne Land im Bürgerkriegsinferno unterging. Als selbst enge, aber leider kurzsichtige NATO-Verbündete ihn heftig kritisierten, verstand er die ungerechte Welt nicht mehr und trat am 18. Mai 1992 zurück.


Bei all seiner diplomatischen Meisterschaft war Genscher doch ein gütiger, hilfsbereiter Mensch. Sein Einsatz für die Freilassung des wegen schweren Betrugs und Steuerhinterziehung eingekerkerten Michail Chodorkowski zeigt das mit besonderer Deutlichkeit. Er scheute weder Kraft noch Mühe, den raffgierigen Ölmilliardär aus den Fängen der russischen Justiz zu befreien. Zweimal hat er persönlich mit Präsident Putin gesprochen, und als dieser den Strafgefangenen wegen der Krebserkrankung seiner Mutter aus »humanitären Gründen« begnadigte, sorgte der deutsche Ex-Außenminister dafür, dass der Freigelassene mit dem Privatjet eines befreundeten Unternehmers von St. Petersburg nach Berlin in die Freiheit gebracht wurde. Der rettende Engel ließ es sich auch nicht nehmen, ihn in einer Limousine vom Flughafen Berlin-Schönefeld in das Zentrum der Bundeshauptstadt zu begleiten und im Nobelhotel »Adlon« unterzubringen. In einer Erklärung sprach Chodorkowski »Herrn Hans-Dietrich Genscher« seinen »besonderen Dank« aus. Und dieser war tief bewegt: »Einen Mann, der so viel gelitten hat, in Freiheit zu sehen, hat mich sehr berührt«, sagte er.


Freilich konnte Genscher nicht immer so bewegt sein. Wenn es die Interessen der bundesdeutschen Wirtschaft verlangten, bewegte er sich verständlicherweise nicht. So im Fall der Elisabeth Käsemann, die sich als Studentin in Armenvierteln von Buenos Aires an Sozialprojekten beteiligte. Nach dem Putsch der Militärjunta wurde sie verhaftet, verschleppt, schwer gefoltert und im Mai 1977 ermordet. Alle Hilfsersuchen des Vaters, des Theologieprofessors und NS-Widerstandskämpfers Ernst Käsemann, und der Familie an das Auswärtige Amt und an Minister Genscher persönlich stießen auf taube Ohren. Als Ernst Käsemann die Nachricht von der Ermordung seiner Tochter erhielt, kommentierte er die gesetzlich gebotene, aber von Genscher und den Seinen verweigerte Hilfeleistung mit den Worten: »Ein verkaufter Mercedes wiegt zweifellos mehr als ein Leben.« Aber es ging eben nicht nur um Limousinen, sondern um enorme Waffenlieferungen. Immerhin wurde die Bundesrepublik nach dem Putsch zum größten Rüstungslieferanten für die Junta unter General Jorge Videla. Konnte der deutsche Außenminister diese einträglichen Geschäfte gefährden? Auf keinen Fall – und so ist es verständlich, dass Genscher bis an das Ende seiner Tage jeglichen Kommentar zu seiner unterlassenen Hilfeleistung verweigerte. Er zog es vor, einem betrügerischen Milliardär zur Seite zu springen.


Was soll’s? Nobody is perfect – nicht einmal der »Titan unter den Diplomaten Europas«, wie Ex-US-Außenminister James Baker seinen dahingegangenen Kollegen Genscher zu nennen beliebte.